Eine chronische Krankheit zu haben, macht etwas mit einem. Sie bestimmt zwar nicht vollkommen das Leben, aber führt ein Eigenleben im Hinterkopf. Nicht in jeder Situation spürt man sie, nicht jeden Tag denkt man an sie, nicht immer sind ihre Symptome spürbar – dennoch existiert sie und in manchen Momenten macht sie einem den Alltag nicht gerade einfacher.
Der erste Schritt, den man machen muss, und der erste Schock, den man erlebt, ist die Diagnose. Wenn ich an mein Lipödem denke, war es ein Gefühl von Befreiung und Ausgeliefertsein in einem. Ich verstand endlich meine Symptome, die Schmerzen, das Erscheinungsbild meiner Beine, zum anderen jedoch, spürte ich eine große Last, die nun zusätzlich auf meinen Schultern bzw. auf meinen Oberschenkeln lag. Ich brauchte zunächst erstmal Zeit, um alles zu realisieren, um mir einzugestehen, dass meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nun nicht mehr ohne Lipödem zu denken waren.
Ich las mir im Internet viel an, suchte nach Erfahrungsberichten und nach Tipps im Umgang mit dem Lipödem. Ich stieß auf Diätpläne, Lymphdrainagen, medizinische Eingriffe zur Fettabsaugung und das Gebot, Kompressionsstrümpfe zu tragen, wann immer es geht. All das überforderte mich und überfordert mich bis heute – mir fehlt oftmals die Lust, mich mit all dem zu beschäftigen und vor allem die Kraft, dauernd zum Arzt und zur Lymphdrainage zu rennen. Habe ich doch noch ein Leben neben meiner Krankheit, habe ich doch auch noch weiteren chronischen Ballast in Form von Endometriose auf meinem Buckel und sonstige medizinische Probleme, die akuter gelöst werden wollen.
Und doch, auch wenn ich das immer vor meinen inneren Kritiker rechtfertigen zu versuche, bleibt das schlechte Gewissen. Das Gefühl, nicht genug zu tun und deshalb alles noch schlimmer zu machen. Der Selbstvorwurf, nicht genug Selbstfürsorge zu praktizieren. Und in den Momenten, in denen es mir besonders schlecht geht, mache ich leere Versprechungen an mich selbst, mich ab morgen um alles zu kümmern.
Wenn dann das Morgen gekommen ist, es mir besser geht, schieb ich es wieder auf. Es entwickelt sich so ein Teufelskreis, den zu durchbrechen in mancher Hinsicht zu viel Kraft kosten würde. Manchmal verfalle ich sogar in das Denken, dass ich es besonders schwer habe, mit all dem umzugehen. War ich und bin ich doch z. B. ein Jojo-Mädchen, d. h. mein Leben ist geprägt von Gewichtsschwankungen nach oben und unten. Jedes Mal also, wenn die Waage mal wieder ein paar Kilos mehr anzeigt, schelte ich mich selbst. Gewichtszunahme ist nämlich ein großer Risikofaktor für die Verschlimmerung des Lipödems und Gewichtsabnahme wiederum kann dem bestehenden Lipödemanteil nichts anhaben. Eine verzwickte Situation, die mich manchmal extrem runterzieht.
Dazu kommt ebenfalls die totally random erscheinende, aber mich dennoch belastende Tatsache, dass ich mittlerweile einige Schuhe nicht mehr tragen kann, die ich vor zwei oder drei Jahren gekauft habe. Meine Füße sind konsequent so angeschwollen, dass ich nicht mehr in sie reinpasse. Auch wiederum ein Indiz dafür, dass das Lipödem sich weiter ausgebreitet hat und die Lymphen schlechter arbeiten. Seit einem Jahr kaufe ich deshalb auch generell Schuhe eine halbe oder ganze Nummer größer, einfach damit ich bei höherer Belastung, welche das Anschwellen der Füße zur Folge hat, noch aus den Schuhen komme und nicht das Gefühl habe, man müsse mich chirurgisch aus ihnen herausschneiden.
Darüber hinaus fällt mir jetzt im Sommer besonders schwer, mich wohl in meinem Körper zu fühlen und nicht wie Tante Magda aus Harry Potter und der Gefangene von Askaban, wenn sie vollkommen aufgeblasen über den Ligusterweg schwebt. Über mein verzerrtes Körperbild, die neidischen Blicke auf Frauen mit schlanken Beinen und wenig Zellulite und das allgemeine Gefühl, nicht schön zu sein, habe ich letztens noch einen Blogbeitrag geschrieben und will ich damit nicht weiter thematisieren - es reicht ja, wenn meine Beine an unnötigem Umfang zunehmen, da muss es nicht auch noch dieser Blogbeitrag tun.
All das, was ich hier also beschreibe und in anderen Beiträgen der Reihe #chronicalme auch bereits geschildert habe, gehört einfach irgendwie dazu, wenn man ein Lipödem bzw. eine chronische Krankheit hat – aber ist gleichzeitig auch super individuell: Jeder empfindet es anders und doch sitzen wir alle im gleichen Boot.
Warum schreibe ich das also schon wieder alles hier nieder? Warum veröffentliche ich diesen Artikel, der doch eigentlich keine konstruktiven Tipps enthält? Was erhoffe ich mir davon, all dies mit euch zu teilen?
Wenn ich ehrlich auf diese Fragen antworte, ist es zum einen, dass ich gerade ein Ventil brauche für all das, was in meinem Kopf herumgeht. Egoistisch, ja – aber keiner ist gezwungen, das hier zu lesen. Zum anderen möchte ich aber auch zeigen, dass eine chronische Krankheit diagnostiziert zu bekommen, keine einfache Sache ist. Es ist nicht immer, wie auf Social Media gezeigt wird: Man lebt nicht auf einmal zwingend das Leben, was für die Krankheit am besten ist. Man nimmt nicht immer alle Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch, auch wenn dies sicherlich sinnvoll wäre. Man kann nicht einfach die Person hinter sich lassen, die geglaubt hat, sie wäre gesund und dementsprechend gehandelt hat. Es ist ein langwieriger Prozess mit Ups and Downs, mit Phasen, in denen man gut zu seinem Körper ist, aber auch Phasen, in denen man das einfach nicht kann. In denen einem die Motivation fehlt, es an Kraft und Zeit mangelt, sich aufzuraffen und sich weiterhin mit all dem zu beschäftigen. Klar, Zeit kann man sich immer nehmen – das ist auch eine Maxime, die ich vertrete, aber dennoch ist es manchmal sinnvoll, nicht- akute Probleme hintenanzustellen. Und das Schöne an einem Lipödem ist ja schließlich, es bleibt für immer und wartet am Ende des Tages wie ein treuer Gefährte auf einen, bis man zu ihm nach Hause kommt.
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