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"Die Frau im blauen Pyjama" oder "Ein Gedankenexperiment"

Es war Dienstag, ich saß in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Es war kurz nach 14Uhr, ich hatte gerade die Arbeit verlassen, freute mich auf mein Mittagessen und da sah ich sie: Sie saß auf einem Vierer, die Stelzen einmal diagonal über die Sitzplätze gelegt, sodass zwei Dreiecke entstanden und ihre Beine die Hypotenuse der beiden bildeten. In der linken Hand hielt sie eine Fantaflasche gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, welche sie lässig hin und her schwenkte in einem Rhythmus, den nur sie zu hören schien. In der Rechten hatte sie eine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, ihr Blick ging melancholisch in die Ferne und erstarb an den Wänden der unterirdischen U-Bahn-Tunnel.

Doch das Bemerkenswerteste an der U-Bahn-Passagierin war ihre Bekleidung; mitten am Tag war sie in einen blauen Schlafanzug mit weißen Punkten gekleidet. Sie trug ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die mich Ehrfurcht lehrte und ich wagte es nur, sie aus den Augenwinkeln zu beobachten. Sie war wahrlich eine Erscheinung in ihrer ganzen Person und ich fragte mich, was sie mir wohl vom heutigen Tag erzählen könnte, wenn ich sie nur darauf ansprechen würde.

Fragen über Fragen kursierten ab diesem Zeitpunkt in meinem Kopf: Warum trug sie um halb drei am Mittag einen Pyjama? War dies jetzt neuste Mode? Ich erinnerte mich daran, dass letztes Jahr der Lingerie-Look der heißeste Trend des Sommers gewesen sein soll – ich betone „soll“, denn ich persönlich in meinen modischen Hinterweltlerdasein habe das nur am Rande meines Kosmos wahrgenommen.

Aber vielleicht lag der Fall auch ganz anders und es bestand keinerlei Zusammenhang zu irgendeiner saisonalen modischen Marotte. Unter Umständen hatte sie sich bloß morgens auf dem Weg zum Mülleimer ausgesperrt oder ihr war der Schlüssel im Schloss abgebrochen, als sie wieder rein wollte. Möglicherweise hatte sie nur schnell noch den gelben Sack wegbringen wollen, weil heute die Müllabfuhr gekommen ist … und dann hatte sie ihre penible Nachbarin getroffen, die sie mit einem abfälligen und zurechtweisendem „Sie können doch nicht eine Pfandflasche im Müll entsorgen, Frau X!“ begrüßt haben könnte. Das würde auf jeden Fall die Fantaflasche ohne Fanta drin erklären.

Aber was war nun diese durchsichtige Flüssigkeit in der Flasche? Fanta war es definitiv nicht … Oder sollte ich mich irren? Gab es nun doch auch durchsichtige Fanta und ich, eine Kranwasser-Verfechterin, kannte diese Neuerung noch nicht? Immerhin gibt es meines Wissens nach mittlerweile schon rote und auch lilafarbene Varianten dieses quietsch-orangen Getränks. Aber vielleicht war das alles auch nur eine Finte? Gewollte Irritation? Ein Kunstauftritt, der uns verwirren und unsere kognitiven Verknüpfungen (Fantaetikett auf Flasche = Fanta drin) in Frage stellen sollte?

Oder es war doch alles viel unkünstlerischer und rationaler zu erklären. Nachdem ihr der Schlüssel im Schloss abgebrochen war, hatte sie bei der NETTEN Nachbarin geklingelt, um einen Schlüsseldienst anzurufen.

Diese musste dann aber zur Arbeit und hatte der Frau im blauen Pyjama einfach Wasser in die Fantaflasche gefüllt, damit diese nicht dehydrierte. Always stay hydrated!

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Aber ein Schlüsseldienst kommt doch zu einem nach Hause, also was machte diese Frau in der Bahn? Wohin fuhr sie? Welches Ziel hatte sie? Lag ich vielleicht doch mit meinen Vermutungen zu weit von der Realität entfernt? Fuhr sie vielleicht einfach ins Homeoffice, nachdem sie eine wilde Nacht verbracht hatte, und trug nun stilecht ihre „Arbeitskleidung“?

Oder war es unter Umständen und ganz im Gegenteil eine Protestaktion gegen ihren Arbeitgeber, der sie trotz der momentanen viralen Einschränkungen im Büro antanzen ließ? Oder habe ich die offensichtlichste Lösung beinahe übersehen. Jacqui, du wohnst jetzt in Köln, da ist Karneval das ganze Jahr omnipräsent! Hatte ich vielleicht unter den ganzen Corona-News das Kölner Karneval Revival im März nicht mitbekommen?

Oder gab es geheime Karnevalssitzungen, die momentan, natürlich über Skype geführt wurden, jeder in einem anderen Raum am anderen Ende der Stadt – aber im Kostüm?

Fragen über Fragen und bis jetzt hatte ich noch keine eindeutige Antwort, geschweige denn eine Chance auf eine Antwort. Sollte ich mir nicht doch ein Herz nehmen und einfach auf sie zugehen, fragte ich mich. So ganz nach dem Motto „Hey, Sie da im blauen Pyjama, deren Beine die Hypotenuse zweier Dreiecke bilden, die nur in meiner Wahrnehmung existieren. Sagen Sie mal, was treiben Sie denn heute so? Wo kommen Sie her? Gibt es den Schlafanzug noch irgendwo zu kaufen?“. Aber ehrlich gesagt, traute ich mich noch nicht einmal zu fragen, ob ich einen Schluck von ihrer Fanta-Nicht-Fanta haben dürfe.

Und dann passierte das Unvermeidliche, wir hielten mit der Straßenbahn an einer Haltestelle vor der meinigen und sie stieg einfach aus. Sie schwang mit einer unnachahmlichen Eleganz die Beine von den Sitzen und schlurfte mit derselbigen aus der Bahn: In der Linken immer noch die Zigarette, deren Herkunft und Zweck im Gesamtbild ich noch niemals Zeit hatte zu erörtern, und der Fantaflasche mit der klaren Flüssigkeit (könnte es vielleicht auch Desinfektionsmittel gewesen sein?) in der Rechten. So ließ sie mich und meine vielen Fragen rund um ihre Person allein in der Bahn zurück und ich schaute ihr sehnsüchtig hinterher.

„Auf Wiedersehen, du mysteriöses Wesen“, flüsterte ich, während ich ihr nachblickte und mein Sitznachbar mich vollkommen verstört von der Seite ansah.

 
 
 

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