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AutorenbildJacqueline

Ein Gast in der mentalen Höllen-WG

Der Abend legte sich über die Gehirnlandschaft. Das ES hatte sich längst schläfrig in seine Höhle getrollt, Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulze ging die letzten Wenn-Dann-Regelungen des Tages durch und so wie mein kleines Ich sie kannte, würde sie auch nicht mehr so lange brauchen, die letzten 12 Stunden waren nämlich doch recht ereignislos gewesen. Mein Ich in seinem kleinen Sessel gab sich fast schon der Illusion von Frieden hin, als es plötzlich an der Tür klopfte. Obwohl das Wort „klopfen“ rückblickend gesehen ein Euphemismus war, viel mehr schien jemand die Tür einzutreten und stand Millisekunden später mitten in der cerebralen Höllen-WG. „Haaalloooo“, rief die Gestalt mit ihrer wohl bekannten und genauso verhassten Reibeisenstimme in den Raum, „Einen wunderschönen Abend zusammen!“. „Nicht du!“, murmelte mein kleines Ich, das sich auf ein paar ruhige Stunden im Traumland gefreut hatte, „Nicht du schon wieder!“. „Na, hast du mich vermisst?“, die Gestalt schritt auf mein kleines Ich im Sessel zu, die Hand ausgestreckt, um der Sesselbesitzerin gleich schmerzhaft in die Wange zu kneifen.


Doch, bevor dies passieren konnte, ging die Tür von Frau Schmitz-Schulzes Büro auf und die hagere Gestalt der alternden Sekretärin stand im Raum. „Was beschert uns die Ehre des späten Besuchs?“, fragte die Doppelnamenträgerin den Gast und rieb sich dabei die vom Ordner-Beschauen müden Augen, „Gibt es etwas zu besprechen? Und wenn ja, hat dies nicht bis morgen Zeit?“. „Sybille, Schätzchen, du weißt doch, dass wenn ich vorbeikomme, es NIEMALS ohne Grund ist!“, antwortete darauf der ungebetene Gast und rang mit seinen dicken Händen, sodass seine Armbänder unheilvoll klapperten. Meinem kleinen Ich fuhr ein kalter Schauer den Rücken runter und es zog die Beinchen nur noch enger an den Körper, als könnte es eins mit seinem Sessel werden.

Dieser Gast, der da mitten im Raum stand und mit seinem starken Parfüm die halbe Hirni-WG vernebelte, war mehr als unerwünscht. Es war wie der Besuch von der unangenehmen Tante, der man als Kind ein Küsschen geben musste, wenn sie kam und zu der man immer nett sein musste, egal wie fies sie war. Ja, genau diese eine Tante, die nun alle vor Augen haben, der man nie etwas recht machen konnte, entweder war man zu still und schüchtern oder zu laut und aufmüpfig, zu dünn und kränklich oder zu dick und unsportlich. Nein, eigentlich war es genau diese Tante, die da nun mitten im Raum und zu den ungelegensten Momenten unangekündigt vor der Tür stand.


„Was ist denn?“, Frau Schmitz-Schulzes Worte rissen mein kleines Ich aus seinen Gedanken. „Weißt du, wir müssen mal dringend reden“, erwiderte „die Tante“, wie sie mein kleines Ich vor einigen Sekunden getauft hatte. „Ich habe mir so meine Gedanken gemacht“, fuhr sie daraufhin bedeutungsschwanger fort, machte eine kurze, dramatische Kunstpause und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. „Wo ist denn eigentlich unser kleines ES?“, fragte die Tante dann vollkommen unvermittelt, als wären nicht alle Kadetten zum Appell erschienen.


„Es schläft, es ist müde. Lass‘ es doch schlafen!“, antwortete daraufhin mein kleines Ich in der Hoffnung auf Deeskalation. Es wusste nämlich sehr genau, dass wenn auch noch das ES dabei wäre, die Hölle in der WG losbrechen würde. „Ach schade“, sagte daraufhin die Tante, „Ich geh‘ mal gucken, so spät ist es doch noch nicht, vielleicht ist ES ja noch wach!“. Einen kurzen Moment hatte mein Ich das Gefühl, dass Frau Sybille-Cordula Schmitz-Schulze zu einem Hechtsprung ansetzten und der Tante den Weg zum Höhleneingang versperren würde, aber nichts dergleichen geschah. Die Tante machte sich mit ihren dicken Beinen in den viel zu kleinen Stöckelschuhen auf den Weg zu ES‘ Behausung. Ihre Schritte ahmten das Ticken einer Zeitbombe nach, einer Zeitbombe, die in dem Augenblick explodierte, als sie nach dem ES rief: „EEEEESSS, Schätzchen, Besprechung, JEEEETZT!“.


Keine zwei Sekunden später stand das ES auch schon im Höhleneingang. Seine Haare waren noch verwuschelter als sonst, sein Blick noch halb verschlafen, doch hinter dem Schlafsand tobte schon wieder ein Feuer. „Bitte, mach’s kurz, was ist denn los?“, versuchte Frau Schmitz-Schulze doch nun einzugreifen. „Aaah, Sybille, wenn man einen Gast hat, dann drängt man ihn doch nicht. Das solltest du, doch am besten wissen!“, erklärte daraufhin die Tante mit einem süffisanten Lächeln. „Aber, wenn wir jetzt vollzählig sind, dann kann ich ja anfangen … Erinnert ihr euch, an den Moment vor fünf Jahren. Da wart ihr echt gemein zu dieser einen Frau. Also, dass hätte ich niemals gedacht von euch.“


„Aber das ist doch schon ewig her und…“, versuchte mein Ich, zu insistieren und den großen Knall doch noch abzuwenden. „Aber ihr habt euch nie entschuldigt und die gute Sybille wird mir zustimmen“, sie zwinkerte eben Genannter pseudoverschwörerisch zu, „wenn man sich nicht entschuldigt bei Menschen, denen man Unrecht getan hat, dann ist man ein schlechter Mensch!“.

„Ich bin kein schlechter Mensch. Das war ein schlechter Mensch!“, brüllte auf einmal das ES los, bevor sonst eine der WG-Bewohnerinnen etwas sagen konnte. „Ich hasse die! Ich hasse die! Ich hasse die immer noch!“. „Und das ist wirklich keine reife Einstellung von euch, also da hätte ich wirklich mehr erwartet!“, erwiderte die Tante und schaute missbilligende auf das ES herab, was nun mit den kleinen Fäustchen begonnen hatte, auf den Boden zu trommeln und weiterhin „Ich hasse die!“ schrie. „Und nicht nur das, ihr Lieben, erinnert ihr euch auch noch an den Teller, den ihr geklaut habt? Ihr wusstet, dass das nicht eurer ist, als ihr den nach dem Picknick eingepackt habt und ihr wusstet auch, wem er gehört und ihr habt ihn trotzdem nie zurückgegeben! Das war Diebstahl“, fuhr die Tante scheinbar vollkommen ungerührt von ES‘ Reaktion fort. „Ihr seid nicht nur gemein, ihr seid auch noch Diebe!“. „Und erinnert ihr euch auch noch an die schnippische Bemerkung von letzter Woche, die hatte euer Gegenüber einfach nicht verdient“, plapperte die Tante unbeirrt weiter, „Und damals, in der vierten Klasse, auf der Miniplayback-Show – einfach nur peinlich…“.


Mein Ich seufzte, Frau Schmitz-Schulze verschwand kurz in ihrem Büro und kam mit einem Stapel Aktenordner zurück und das ES‘ hatte mittlerweile seine Schreierei in „Ich hasse dich!“ geändert und starrte zwischendurch die Tante bitterböse an. „Das wird eine lange Nacht“, flüsterte mein Ich und es schien fast, als hätte Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulze, der Inbegriff des Wortes Work-A-Holics (Denn: Wenn man nicht hart arbeitet, hat man auch keine Pausen verdient“) ,Mitgefühl mit ihm. Sie setzte sich nämlich auf die Sessellehne, überschlug die Beine und legte kurz die Hand auf die meines Ichs – so ganz nach dem Motto: „Wir stehen das durch! Irgendwann wird sie wieder gehen – nur halt nicht mehr heute Nacht!“.

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