Mein Name ist Hel. Ich bin in Baldurs Gate aufgewachsen, in einer schäbigen Hütte an der Stadtmauer. Nur hier gab es Platz für uns Tieflinge. Die Menschen und restlichen Bewohnerinnen und Bewohner meiner Heimatstadt fürchteten uns. Der Hauch des Höllenfeuers sowie die Aura der Dämonen und Teufel umhüllte uns immer noch, obwohl es Jahrhunderte her war, dass unser Volk einen Pakt mit Zariel eingegangen ist, eine der Höllenfürstinnen unter den Höllenfürsten. Deshalb wurden meine Schwester Bel und ich auch von unserer Mutter stets dazu angehalten, unauffällig und fügsam zu sein. „Macht kein Aufsehen und haltet euch von Streitereien fern“, sagte sie immer. Ich hasste es. Ich hasste es, ein Tiefling zu sein, ich hasste es, in Baldurs Gate zu leben und am aller meisten hasste ich es, immer von Mutter gemaßregelt zu werden – besonders weil Bel sich dauernd bei ihr einschmeichelte. Bel hielt sich immer an Regeln, Bel machte sich nie ihr Kleid schmutzig, Bel war perfekt – und ich hasste sie dafür, obwohl ich sie liebte.
Deshalb verkroch ich mich meist bei Vater in der Werkstatt. Er schmiedete Rinkeln für die Kettenhemden der Krieger und Kriegerinnen der Stadt. Hier in der Werkstatt fühlte ich mich wohler als unter den strengen Augen meiner Mutter. Vater war ein schweigsamer Mann und immer sehr auf seine Arbeit konzentriert, sodass ich mich ohne eine Rüge in eine Ecke setzen und lesen konnte. Schon als Kind liebte ich Bücher über große Helden und Heldinnen, die wundersame Abenteuer bestanden und durchs Land reisten. Alle begegneten ihnen mit Respekt oder verehrten sie. Oft verfiel ich in Träumereien, während der gleichmäßige Schlag meines Vaters auf den Amboss mich noch tiefer in eine Trance versetzte. Ich träumte davon, selbst eine Heldin zu sein und niemand könnte mir irgendwas verbieten. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Faerun würden mich verehren und mir keine misstrauischen, sondern stattdessen bewundernde Blicke zu werfen. Sie würden mich vielleicht sogar ein bisschen fürchten - die Vorstellung gefiel mir.
Aber dieses Leben war mir nicht bestimmt – dachte ich zumindest. Ich glaubte, bis ans Ende meiner Tage in Baldurs Gate in einer windschiefen Kate wohnen zu müssen und irgendwann wie meine Mutter zu werden – herrisch aus Ängstlichkeit. Oder wie mein Vater – schicksalsergeben und demütig. Einmal fragte ich Vater, warum er bei seinem Geschick nicht ganze Kettenhemden oder sogar Rüstungen und Waffen schmieden würde. Erst blickte er noch niemals auf. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, antwortete er nur: „Auch ein Rinkel ist ein Teil einer Rüstung, ohne sie gäbe es kein Kettenhemd und ohne Kettenhemden für Paladine und andere Helden keine glorreichen Geschichten über Kämpfe und große Siege, wie du sie gerne liest. Wir alle haben einen Platz in dieser Welt, auch du wirst deinen finden!“. Ich glaube, das war das meiste, was Vater je an einem Stück gesprochen hatte – und wahrscheinlich auch das bedeutendste, was er je zu mir gesagt hatte. In Gedenken an diese Worte trug ich später immer eine der Rinkeln in der Nase, die er geschmiedet hatte.
Vielleicht hätte er auch noch mehr weise Dinge auf der Zunge liegen gehabt, aber zu diesen kam es nie, denn mir passierte mit etwa neun Jahren ein schreckliches Missgeschick: Wieder hatte ich mich zum Lesen in die Werkstatt zurückgezogen, ich war allein dort und hockte auf einer Kiste bei der Esse. Vater brauchte gerade eine Lieferung Rinkeln an den hiesigen Panzerschmied und ich verkroch mich mal wieder vor Mutter und Bel. In einem unachtsamen Moment, ich war mal wieder tief in meinen träumerischen Gedanken verloren, rutschte mir das Buch vom Schoß. Ich schreckte auf und wollte mich von der Kiste aus, nach dem Buch strecken, welches einen Meter von mir entfernt auf dem Boden lag. Ich beugte mich vor, mein Arm war zu kurz, und ehe ich mich versah, fiel ich vornüber. Und das so unglücklich, dass ich an den Rand der Esse rollte und mir die glühende Asche das Gesicht verbrannte. Ich weiß nicht mehr genau, was dann geschah. Vater muss mich gefunden und zu meiner Mutter in den Wohnraum gebracht haben. Sie riefen einen Arzt. Erst später verstand ich, wie viel Geld es sie gekostet haben muss, einen Heiler zu finden, der auch Tieflinge behandelte. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich vollkommen entstellt gewesen, doch er schaffte es, dass nur ein Teil meines Gesichtes für immer gebrandmarkt war. Das reichte meiner Mutter zwar schon, um mir zu prophezeien, dass ich ein schwieriger Fall wäre, wenn es um die Partnersuche gehen sollte. Ich möge mir doch keine großen Hoffnungen machen, sagte sie und meinte wahrscheinlich eher sich selbst damit.
Es dauerte noch einige Jahre und mehrere Stapel gelesener Bücher bis sich endlich mein wahres Schicksal offenbarte. Für mich war es weniger als für Bel vorbestimmt, eine Hausfrau und Mutter zu sein – auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt nur hoffen, aber nicht wissen konnte. Ich war nun kein Kind mehr, aber auch noch keine Erwachsene. Meine Eltern hatten sich an mir die spitzen Tieflingzähne ausgebissen und ich fing an, mir die Hörner abstoßen zu wollen. Lesen befriedigte mich nicht mehr. Ich wollte nun endlich all das papierene Wissen mit eigenen Augen sehen und streifte nachts durch die Stadt. Ich ließ mir die Narbe übertätowieren, schlich durch die Gassen und beobachtete Baldurier und Baldurierinnen, welche meiner Meinung nach ein Leben hatten. Ich neidete ihnen die Gesellschaft, das Lachen und die Unbeschwertheit. Und trotzdem erfüllte es mich gleichzeitig mit ein bisschen Hoffnung, dass auch ich dies noch erleben würde dürfen.
Nachdem mich jedoch dreimal die Patrouille der Baldurier Nachtwächter auf meinen nächtlichen Ausgängen geschnappt, mich diebischen Absichten bezichtigt und zu meinen Eltern wieder nach Hause gebracht hatten, Mutter geschrien und Vater enttäuscht den Boden angestarrt hatte, wurde ein Entschluss getroffen: Ich solle zu Verwandten nach Neverwinter reisen, wo es eine große Tieflingskolonie gab. Diese Reise sollte alles verändern. Der Abschied war nicht gerade tränenreich. Meine Mutter betrachtete mich mit einem Blick, der so viel bedeutete wie „Was soll nur aus dir werden, Kind“, Vater schloss mich kurz und unbeholfen in die Arme und Bels Gefühle lagen verborgen hinter einer versteinerten Miene. Auch wenn wir nie eine enge Verbindung miteinander hatten und ich sie hasste und liebte zugleich, tat es mir weh, sie zurückzulassen. Unsere Reibereien würden mir fehlen.
Also machte ich mich auf den Weg. Ich reiste zunächst mit Nadar, einem bekannten Halb-Ork Söldner, der mit meiner Familie bereits seit Jahren befreundet war. Mein Vater hatte ihm schon das ein oder andere Mal die Rüstung geflickt oder das Beil geschärft. In der dritten Nacht kamen wir in ein Gasthaus am Wegesrand, in dem es von zwielichtigen Kreaturen nur so wimmelte. Und das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich in Gesellschaft wohl. Ich trank mit ihnen und Nadar Bier, scherzte, spielte, um ein bisschen meines Reisegeldes, und als der Morgen schon graute, wankte ich hoch in mein Zimmer, wo ich glücklich einschlief, bis …bis passierte, was meinem Leben endlich einen Sinn und eine Bedeutung geben sollte. Ich erwachte von blendendem, gleißendem Licht. Ich hielt mir die Hand vor die Augen, um sie zu schützen, doch half es nicht. Die Helligkeit konnte ich nicht abschirmen, sie schien mich zu durchdringen, meine Haut, meinen Geist und meine Seele. In zweierlei Hinsicht betrunken – von Schlaf und dem Bier – war ich nicht in der Lage aufzustehen oder etwas zu sagen. Das brauchte ich auch nicht, denn eine klare, laute Stimme sprach zu mir: „Hel, Tochter des Rak Tane, du seist auserwählt, mir zu dienen und dafür, den Segen meiner Macht zu erhalten“. Zu diesem Zeitpunkt war ich höchst verwirrt und verstand kaum, was mir geschah. Meine Erinnerungen an die erste Begegnung mit meinem Patron, einer Erzfee, sind daher lückenhaft und verschwommen. Ich kann nur noch rekonstruieren, dass ich impulsiv und vielleicht auch ein bisschen naiv „Ja“ gesagt habe. Aber ich bereute es keine Sekunde, denn von da an, besaß ich endlich Kraft und fand Stärke in mir und Freiheit in der Welt. Der Dienst für die Erzfee war mir jedes Opfer wert, solange ich endlich Macht mein eigen nennen konnte. Ab dieser Begegnung fühlte ich mich endlich gesehen statt ertappt, ich ängstigte mich nicht mehr vor der Welt, sondern war bereit sie, nach meinen Vorstellungen zu formen. Und am nächsten Morgen verließ ich aufrecht und mit neuem Mut das kleine, schmutzige Zimmer im Gasthaus.
Ich sagte Nadar Lebewohl und gab ihm eine Nachricht an meine Familie mit, sollte er nach Baldurs Gate eines Tages zurückkehren. Ich atmete noch einmal tief ein, kehrte dem Gasthaus und meiner bisherigen Heimat in der Ferne den Rücken und lief los – als neues Ich. Nein, endlich als ein „Ich“ mit einem Ziel ohne Weg, aber einem unbändigen Wunsch in mir: Endlich mehr zu sein als bloß ein Tieflingmädchen mit einer Höllennarbe und dafür ohne Perspektive. Mein Name ist Hel Tane, Hexenmeisterin aus Faerun, gesegnet mit Weisheit und Magie der Erzfeen, denen ich für dieses wunderbare Geschenk meine demütigste Loyalität schulde, bereit für ein echtes Abenteuer.
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