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AutorenbildJacqueline

Es ist wieder jene Zeit gekommen...

Es ist wieder jene Zeit gekommen, in der sich alle Welt Sterne in die Fenster klebt, als wären sie eines von diesen Hotels, die 1950 mit drei von jenen spitzzackigen Emblemen ausgezeichnet worden sind. Damals als Plattenbauten und Teppichboden noch „in“ waren, als ein Waschbecken auf dem Zimmer gehobener Standard und ein Überwurf mit rosa Rüschen und Rosenprint über dem Bett das Must-Have des Jahrzehnts war. Heutzutage erinnern sie nur noch nostalgisch mit ihren drei Sternen an der ungeputzten Scheibe an jene Zeit, während deren Glanz schon längst verblasst ist – genauso wie jegliche Reinigungsstandards.


Es ist wieder jene Zeit gekommen, in denen rotnasige, ältere Männer nicht nach einem Alkoholproblem gefragt werden, sondern ein Lächeln der Gesellschaft ernten. In der sich jeder einen solchen ins Fenster stellt und keiner den Cholesterinspiegel dieser Figur mit einem bedauernden Kopfschütteln bedenkt oder sich Gedanken um ihr Diabetesrisiko macht.


Es ist wieder jene Zeit gekommen, in der wir über Plätze schlendern, die aussehen, als hätte sie ein Disneyfilm ausgekotzt. Kleine Buden reihen sich aneinander, als wollten sie sich vor der Kälte schützen, die aber aufgrund des Klimawandels letztendlich nur Schnee von gestern ist. Sie animieren uns zum Kauf wie die Sonnenbrillen vertickenden Strandverkäufer, die uns im Mallorca-Urlaub bei unseren Katerschläfchen nerven. Doch zu dieser Zeit ist das ok, denn hier gibt es schließlich keine Sonnenbrillen, sondern Bratwurst und Glühwein. Genau DAS sollte man mal am Strand der Balearischen Inseln verkaufen, dann würd' sich auch keiner beschweren!



also, ich bin noch nicht 100%ig in Weihnachtsstimmung und ihr so?

Es ist wieder jene Zeit gekommen, die dafür sorgt, dass alle glauben, sie müssten rote Mützen tragen, die am besten auch noch wild blinken. Für nur 15€ mehr geben diese dann auch noch irgendwelche Tonanreihungen von sich, die klingen, als hätte man einen Roboter mit Daumenschrauben dazu gezwungen „Jingle Bells“ zu singen. In diesen Momenten glaube ich glatt wirklich an eine menschenähnliche künstliche Intelligenz, denn ich höre den körperlichen Schmerz und die psychische Scham aus dem „Oh, what fun it is to ride in a one horse open sleigh“ heraus.


Es ist wieder jene Zeit gekommen, in der jede Straße mit irgendeiner Grünzeuggirlande geschmückt ist, die eh keiner bemerkt. Wir alle schlängeln uns nämlich durch die Gassen, beladen wie der Packesel von Maria und Josef, denn wir befinden uns auf der Pirsch nach den besten und natürlich billigsten Weihnachtsgeschenken der Stadt… und natürlich dem unauffällig hässlichsten für die Schwiegermutter.


Es ist wieder jene Zeit gekommen, die wir alle „besinnlich“ nennen, aber nur am Glühweinstand wirklich besinnlich wird, da auf dem Boden der Tasse manchmal eine tiefgründige Aufforderung á la „Gönn‘ dir noch einen, du gönnst dir ja sonst nichts!“ liegt. - „Ach, wenn das so ist, dann hätte ich gerne noch drölf.“


Es ist wieder jene Zeit gekommen, in der alle auf Familie machen, das Weihnachtsessen bei Oma und Opa verklären und alle insofern an den Stall in Bethlehem denken, als dass sie den Ochs im Backofen und den Esel am Tisch sitzen haben. Jene Zeit, die mit einem großen Familienkrach endet, weil niemand gewohnt ist, drei Tage lang aufeinander zu hocken und Onkel Haralds Füßelattacken zu ertragen.


Es ist wieder jene Zeit gekommen, in der Rolf Zuckowskis Stimme aus jedem Lautsprecher tönt und in jeglicher Plätzchenback-Insta-Story auftaucht wird. Der arme Mann muss doch mittlerweile heiser sein und würde in mir ähnlich viel Mitleid wie der daumengeschraubte, ungeölte Roboter erwecken, wenn er diesen Song nicht freiwillig aufgenommen hätte. Hat er doch, oder?


Es ist wieder jene Zeit gekommen, die man „Weihnachten“ nennt und die an mir dieses Jahr – wie ihr vielleicht schon gelinde gemerkt habt – einfach mal spurlos vorbeigegangen ist. Jedenfalls, sofern man den Glühwein nicht mitzählt.

Aber nun gut, dann mache ich eben den Grinch, nicht ganz so grün, dafür genauso zynisch. Und dann frag‘ ich mich, was ich noch mehr zu dem ganzen Gedöns um Weihnachten rum sagen soll und entschließe mich, nicht mehr dazu zu sagen als „Kann mal jemand nach dem Weihnachtsmann da drüben gucken, ich glaube, der hat seine Insulinspritze vergessen?“.

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