Und manchmal kommt dir das Leben dazwischen. Es springt dir wie ein Reh vor den Kühler, während du doch eigentlich gerade auf dem Roadtrip deines Lebens bist. Du bremst noch verzweifelt, doch der Schock fährt dir bereits tief in die Glieder und du weißt, es ist zu spät. Im nächsten Moment hebst du den Kopf, dein Puls pocht panisch in deiner Schläfe, deine Hände zittern, mehr kannst du nicht bewegen. Bist du noch gerade nichtsahnend eine friedliche Landstraße entlanggefahren, ist es nun mit der heuchelnden Harmonie vorbei. Das Leben ist in die eigenen Pläne gekracht, mit voller Wucht, mit all seiner Kraft, die dir in diesem Augenblick entweicht.
Eine Stille umgibt dich, die nur von einem Sirren in deinem Ohr unterbrochen wird. Du hast eine kleine Platzwunde am Kopf, wo du hart auf das Lenkrad der Tatsachen gestoßen bist. Der Aufprall hat dich zurückgeschleudert, es qualmt aus der Motorhaube und versperrt dir die Sicht auf das Übel. Du kannst nicht genau sagen, was passiert ist. Plötzlich war es da, das Reh, das man Leben nennt, es sprang auf die Straße, du hattest keine Zeit zu bremsen, geschweige denn, dich darauf vorzubereiten. Nirgendwo ein Schild, nirgendwo ein Hinweis, nur falscher Frieden auf der Landstraße deines Lebens.
Und trotzdem, du wirfst dir Dinge vor. Du scheltest dich mit Worten, du wischt dir nicht das Blut von der Stirn, du lässt den roten Tropfen dich zeichnen. Du hättest es ahnen müssen, wirfst du dir vor, du hättest vorbereitet sein müssen, du hättest wissen müssen, was in der Zukunft passiert, die du nicht kanntest, die sich deinem Blick entzog, obwohl dein Blick doch bis zu deinem Ziel reichte.
Langsam sinkt der Airbag in sich zusammen, genauso wie du – das Adrenalin lässt nach, dein Blut rauscht nicht mehr so laut in deinen Ohren, dein Atem wird langsamer und langsam begreifst du, dass du nicht länger hinter dem Steuer sitzen und dir Vorwürfe machen kannst. Du musst nach dem Leben schauen, was dir gerade vor die Räder gelaufen ist. Du schnallst dich ab, du willst aufstehen, doch hält dich etwas zurück, obwohl du nach vorne schauen solltest.
Du bleibst einen Moment sitzen, du atmest tief durch, du schaust deinem Verstand zu, wie er verschiedene Szenarien zeichnet, was dich draußen erwarten könnte. Keines davon erscheint dir wünschenswert, keines davon weckt Zuversicht in dir, doch ist die ungnädige Ungewissheit noch schlimmer. Also wischst du dir das Blut von der Stirn, du ballst die Hände zu Fäusten und beißt die Zähne aufeinander. Du wirkst entschlossen und doch fühlst du dich verletzlich, nein verletzt – deine Wunde blutet noch, aber nicht mehr so stark. Und du stehst auf, um dich dem Anblick zu stellen, dem Leben die noch blutige Stirn zu bieten, das Leben und den Tod gleichzeitig zu sehen.
Die Tür schwingt auf, der Qualm hat sich gelichtet, nur noch schwache Rauchschwaden steigen auf, das Jetzt des Ereignis‘ verflüchtigt sich und trotzdem bist du noch voll im Moment. Du schreitest um den Wagen herum – mit all den geistgemachten Bildern deines Verstandes im Hinterkopf und vor Augen. Du erwartest Schlimmstes, du glaubst an noch Schlimmeres … und dann siehst du, was du siehst und in diesem Augenblick erhebt sich das Reh, welches dir wie das Leben dazwischengekommen ist, es wirft dir einen letzten Blick zu und sprintet davon.
Das liegt in der Natur seiner Art, das liegt in der unzerstörbaren Natur des Lebens – es stirbt nicht, es existiert weiter, es lebt von Gestern, über Heute bis zum Morgen und darüber hinaus. Zunächst willst du ihm zürnen, du willst es verfluchen für den scheußlichen Schreck, den es dir eingejagt hast. Und dann siehst du nochmal genau hin, du hältst plötzlich Inne, du stehst nur da und erblickst, was es zu erblicken gibt. Keine zwei Meter weiter liegen tausende Scherben auf dem Boden, tausende Scherben, durch die du ahnungslos durchgefahren wärst, die deine Reifen zerrissen und jegliche Luft entweichen gelassen hätten. Du wärst einfach durchgefahren, wäre dein Leben dir nicht dazwischengekommen, stellst du plötzlich fest.
Also steigst du wieder ein, fährst einen Bogen um den Scherbenhaufen deiner alten Pläne – den Blick auf den Horizont ausgerichtet, auf ein neues Ziel, auf eine neue Chance, auf einen neuen Tag.
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