Langsam fängt es auch bei mir an. Lange habe ich standgehalten. Lange hat die aktuelle Situation mein Leben wenig beeinflusst. Ich bin meinem Job im Home-Office nachgegangen, habe mein Leben gelebt, als wäre nichts anders – außer, dass man nun eine Maske trägt. Ich war schon vorher ein Mensch, der wenige Kontakte hatte, der unter der Woche oftmals für sich war und der die Zeit allein im Bett mit einem Buch oder einer Serie genossen hat. Doch nun fängt es auch bei mir an, dieses unruhige Kribbeln in der Magengegend, welches einem irgendwann übel aufstoßen wird. Ich denke plötzlich wehmütig an eine Zeit zurück, in der ich ins Kino ging, in der ich mit Freunden und Bekannten in unserer Lieblingsbar Karaoke sang, in der ich einen Friseurtermin machen und in der nächsten Woche hingehen konnte.
Wenn ich mich daran zurückerinnere, fühle ich mich plötzlich stumpf, rastlos und gleichzeitig unglaublich erschöpft. Und manchmal schäme ich mich dafür, weil ich doch weiß, dass die uns umgebenden Maßnahmen notwendig und sinnvoll sind und es Menschen gibt, die die Pandemie schlimm(er) getroffen hat als mich. Ich fühle mich undankbar, dass ich es überhaupt wage, mich zu beschweren – ich, die einen sicheren Job und das Privileg hat, ihren Partner (nur) am Wochenende zu sehen. Und doch weiß ich auf der anderen Seite, dass meine Gefühle valide sind, dass sie eine Berechtigung haben, dass ich nicht zwingend nach 20 Minuten Yoga wieder voller Lebensfreude und Optimismus sein muss.
Denn diese Situation beginnt auch nun, mir in die Glieder zu fahren und an mir zu nagen. Sie ist wie Rost, welcher ins Metall kriecht und langsam anfängt, alles zu zersetzen. Ich habe Angst, erst ein- und dann zu verrosten. Ich hätte niemals von mir geglaubt, dass ich an diesen Punkt kommen würde, aber es ist soweit: Ich fange an, zu erinnern, zu vermissen, den Halt zu verlieren. Einfach, weil das Licht am Horizont, welches uns wankelmütig eine Rückkehr zu einer gewissen Form des Alltags verspricht, in einer Ferne liegt, die ich nicht einschätzen kann. Und das liegt nicht daran, dass ich nicht rechnen oder mir Zahlen ab einer gewissen Größe nicht mehr vorstellen kann, sondern daran, dass eben jener Lichtpunkt die Fähigkeit besitzt, heute noch ganz nah zu erscheinen und morgen als wäre er ein Stern am Firmament. Ich kann weder Kalendertage abstreichen, wie damals vor meinem 18. Geburtstag, noch kann ich einen Wecker stellen. Ich muss einfach warten wie ein Freizeitfahrrad in der Garage, bis es bei gutem Wetter endlich wieder zum Einsatz kommen darf – und auf gutes Wetter zu warten, ist in Deutschland ja zumeist eine längere Angelegenheit.
Dass Warten wichtig ist, ist mir bewusst. Deshalb warte ich auch, nur hat sich das Warten verändert. Letztes Jahr war es, als ob ich im bequemsten Sessel der Welt säße, drinnen war es warm, neben mir stand ein heißer Tee und draußen tobte eben jenes Unwetter, von dem ich aber hier neben meinem wärmenden Kamin und mit einem wohligen Dach über dem Kopf vollkommen ungestört blieb. Mittlerweile ist das Dach aber undicht geworden, Regen tropft auf mich herab. Der Sessel ist durchgesessen und verschlissen, der Kamin ausgebrannt und der Tee längst getrunken. Die Tasse ist nicht halb voll, sondern leer. Dennoch – und das möchte ich hier noch einmal betonen – ist dies kein Grund, um aufzustehen, sich eine Reichsflagge als Regenschutz zu greifen und ohne Atemschutzmaske vor irgendeinem Regierungsgebäude zu demonstrieren.
Vollkommen legitim hingegen ist es aber, sich nass und durchgefroren zu fühlen – und das sage ich nicht nur euch, sondern auch mir. Es ist okay, einsam zu sein. Es ist okay, endlich mal wieder in eine Bar, in ein Restaurant oder einfach nur zum Friseur gehen zu wollen. Es ist okay, keine Lust mehr auf Zoomcalls und Bananenbrot zu haben. Es ist okay, dass die Yogamatte zerschlissen und das Bett durchgelegen ist. Aber wir müssen alle noch etwas aushalten, noch etwas im Regen sitzen und Rost ansetzen, denn Rost ist nicht das Schlimmste, was uns und anderen momentan passieren kann – und genau das ist wichtig, uns vor Augen zu führen. Noch ein bisschen Abwarten ist angesagt, damit nicht noch mehr Menschen sterben, damit nicht noch mehr unmenschliche Entscheidungen getroffen werden müssen, wer ans Beatmungsgerät darf und wer nicht. Damit das medizinische Pflegepersonal sowie Ärzte und Ärztinnen keine Überstunden mehr schieben müssen wie Sisyphus den Stein zum Gipfel. Und vor allem damit wir vielleicht schon diesen Sommer endlich ein Stückchen Normalität wiederhaben können, was uns die Pandemie dieses Mal nicht mehr nehmen kann, weil wir sie endlich besiegen werden.
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