„Erinnerst du dich noch, wie oft ich dich beobachtet habe in der Bibliothek? – Noch öfter habe ich sie beobachtet. Erinnerst du dich noch, wie oft ich dir gesagt habe, wie schön du bist? – Sie ist noch um einiges schöner. Erinnerst du dich noch, wie sehr es mich schmerzte, als du mich verrietst? – Noch mehr wird es nun sie schmerzen!“.
SEINE Worte mit blutroten Buchstaben auf der herausgerissenen Buchseite ließen sie erzittern. Fast hätte sie IHN vergessen und alles, was geschehen war, verdrängen können. 10 Jahre war es nun her, doch an diesem verhangenen Januarmorgen hatte es sie wieder eingeholt. Es war durch die Tür geschoben worden, gegen 6 Uhr morgens. Ein leises Klopfen hatte es angekündigt. Sie hatte es ignoriert und sich umgedreht und weitergeschlafen. Nichts Weiteres hatte sie sich dabei gedacht, außer, dass es viel zu früh gewesen wäre, um aufzustehen. Aber die Vergangenheit kennt keine Ruhezeiten; sie kam einfach leise zurück in ihr Leben mit IHM im Schlepptau – quasi unbemerkt, aber jetzt, in diesem Augenblick, war es, als wäre ER in ihrer Wohnung, stände hinter ihr, würde sie beobachten. ER war wieder da, auf diesem Papier, in ihrem Leben. Sie hatte Angst, schluckte diese aber runter. Ein Kaffee – ja das würde ihr helfen, ein heißer, starker, schwarzer Kaffee und ein Stück Schokolade! Sie ließ die Buchseite auf die Erde fallen und lief blindlinks in die Küche, die Seite segelte gemächlich zu Boden. Worte auf Papier können warten, ihr Schreiber aber nicht.
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„Junge Frau in Unibibliothek verschwunden, 23 Jahre alt, Germanistikstudentin, WG-Mitbewohnerin und beste Freundin hat sie als vermisst gemeldet“, betete Pia die Fakten ihres neuen Falls herunter, die der Kollege gerade durchgegeben hatte. Routiniert lenkte sie ihren kleinen roten Polo durch die Straßen von Aachen, sie hasste ihren Dienstwagen und versuchte so oft wie möglich, ihren eigenen zu fahren. Gleich würde sie sich mit der Mitbewohnerin von der Vermissten direkt am Tatort treffen, sie begann sich wie immer ihre Fragen zurecht zu legen; möglichst präzise, kurz und aufschlussreich. Währenddessen fuhr sie den Templergraben entlang auf den kastigen Bau der Unibibliothek zu, dessen dunkle Fenster ihr wie seelenlose Augen entgegenstarrten. Als sie endlich einen Parkplatz gefunden hatte, stieg sie aus und ging mit großen, langen Schritten auf ihr Ziel zu. Einige Studierende kamen ihr entgegen; lebhaft plaudernd, Kaffeebecher in der Hand. Viel hatte sich hier nicht verändert, stellt sie fest, während sie die Treppen zur Bibliothek heraufstieg. Und als ihr dann auch noch beim Betreten der muffige Geruch von veratmeter Luft und altem Papier in die Nase stieg, erinnerte sie sich wieder lebendig an ihn und alles andere ... Und mit ihm war nicht nur der Geruch gemeint.
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Der Blick der jungen Kommissarin schweifte durch den Raum; zwischen all denen mal mehr oder minder beschäftigt wirkenden jungen Menschen fiel ihr eine junge Frau mit verweinten, roten Augen und einer dicken Hornbrille auf der Nase auf. Das musste sie sein! Was hatte ihr Kollege nochmal gesagt? Wie hieß die Mitbewohnerin? Während Pia noch überlegte, schritt sie schon zielstrebig auf die aufgewühlte Zeugin zu. „Moritz, Eva Moritz, heißt sie“, fiel Pia wieder ein, als sie gerade neben der jungen Frau zum Stehen kam. Eva Moritz hatte schon auf halbem Weg die Kommissarin angefangen misstrauisch zu mustern. „Liebknecht, Aachener Kommissariat!“, stellte sich Pia vor und reichte ihrem verweinten Gegenüber die Hand. Wie ertappt zuckte Eva zusammen, wandte kurz verlegen den Blick von der großen, dunkelhaarigen Frau vor ihr ab, um daraufhin etwas verschreckt zu ihr hochzublinzeln. „Moritz, also Eva Moritz!“, stellte sich die junge Frau vor und nahm dankbar Pias Hand entgegen, „Sie sind wegen Lina hier, oder? Lina Schäfer, meine Mitbewohnerin und beste Freundin. Sie ist verschwunden, gestern, also hier, hier in der Uni-Bib, wir haben zusammengelernt und dann bin ich auf Klo …. Warum musste ich auch auf Klo? Warum habe ich nur so eine Miniblase? … Wenn ich nicht weg gegangen wäre, wäre vielleicht alles nicht passiert!“. Während dieser Redeschwall sich über Evas Lippen ergoss, schüttelte sie der Kommissarin in einem durch die Hand. Diese wiederum rollte kurz mit den Augen, ihre zurechtgelegten Fragen konnte sie hier wohl vergessen.
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Nach einem langen, anstrengenden Gespräch mit Eva, in dem Pia unter etlichen Selbstbeschuldigungen und dem ungebremsten Übereifer der Zeugin die wichtigen Informationen mühsam herausfiltern musste, war sie sich immer noch nicht sicher, ob Lina wirklich verschwunden oder vielleicht doch nur vor ihrer anstrengenden Mitbewohnerin UND besten Freundin reißausgenommen hatte. Um Genaueres zu erfahren, ließ sie sich aber dennoch von Eva zum Tatort führen, bzw. zu dem Tisch, wo diese Lina das letzte Mal gesehen hatte. In der Zwischenzeit war auch ein Kollege von Pia eingetroffen, der Zettel mit Linas Gesicht und der Bitte, bei Sichtungen oder sonstigen wichtigen Informationen die Polizei zu kontaktieren, verteilte und nebenbei auch noch einige Studierende in der Bibliothek befragte. „Hier haben wir gesessen; Lina rechts, ich links. Ich habe an meiner Bachelorarbeit gesessen, habe noch mal einen Aufsatz zu den Buddenbrooks gelesen. Kennen Sie das? Haben Sie das auch gelesen? Wenn nicht, ein fantastisches Buch! Also ich liebe ja Toni, sie ist einfach so…“, während Eva nach dem richtigen Adjektiv suchte, um Toni Buddenbrook passend zu beschreiben, suchte Pia nach Hinweisen. Doch der Tisch war heute Morgen anscheinend schon wieder benutzt worden und die Studierenden, die gerade an ihm gearbeitet hatten, waren gerade einen Kaffee trinken oder Ähnliches – jedenfalls hatten sie ihren Arbeitsplatz verlassen. „Und als Sie von der Toilette kamen, war Lina nicht mehr da“, fasste Pia noch einmal zusammen und lenkte das Gespräch zurück auf den scheinbaren Vermisstenfall, „Ist Ihnen vielleicht nach Ihrer Rückkehr etwas Seltsames aufgefallen?“, „Nein, außer, dass Lina nicht mehr da war … ihr ganzes Zeug lag noch auf dem Tisch, Ich dachte sie wäre vielleicht auch zur Toilette“, begann Eva wieder mit ihren Endlos-Ausführungen: „Also ich war schon ein bisschen sauer, dass sie alles so stehen und liegen gelassen und all die Dinge unbewacht gelassen hatte. Immerhin hatte ich hier meinen teuren Faberkastell-Füller liegen und meine Unterlagen für die Bachelorarbeit … “. Die Kommissarin versuchte Eva möglichst aufmerksam zuzuhören, aber als diese die Beschaffenheit ihres Füllers genauer zu beschreiben begann, wanderten Pias Gedanken doch fort von der bebrillten Studentin knapp 10 Jahre zurück: Damals hatte es hier fast genauso ausgesehen, nur saßen hier nicht so viele mit ihren Laptops und daddelten ständig am Handy. Aber die Bücher schienen über die Jahre hinweg wie unbewegt in ihren Regalen zu stehen, wahrscheinlich waren einige neu und andere entsorgt worden, aber im Großen und Ganzen hatte sich hier nichts verändert. „…und dann hatte irgendjemand einfach ein Buch auf Linas Tisch gelegt, einfach so und dann da liegen lassen. Die ganze Zeit, die ich auf sie gewartet habe, lag dieses Buch da, keiner kam es abholen!“, bei diesen Worten kehrte Pia gedanklich zurück zu ihrer Zeugin. „Wie bitte? Da lag ein Buch plötzlich auf Linas Tisch?“, hakte sie nach, diese Information hatte Eva in ihrem ganzen Redeschwall, der sicher mittlerweile eine Stunde anhielt, noch kein einziges Mal erwähnt. „Ja!“, die junge Frau mit der Hornbrille nickte, „Ja, da lag ein Buch!“. „Und das war sicher nicht von Lina? Lina könnte das nicht dahingelegt haben?“, nutzte Pia die Atempause ihres Gegenübers. „Nein“, vehement schüttelte Eva den Kopf, „Wissen Sie, sie arbeitet an Neuerer deutschen Literatur und da lag Hartmanns Erec … das ist Literatur aus dem Mittelalter und die NDL, also neuere deutsche Literatur, beginnt erst ab dem 14. Jahrhundert, also so unge-.“ „Zeigen Sie mir das Buch!“, unterbrach Pia sie. „Keine Ahnung, wo das steht …“, entschuldigte sich die junge Frau, aber Pia war schon bei ihren ersten Worten die Treppe zum Empfang runtergestürzt. „Ich brauche alle Ausgaben von Hartmanns Erec, die Sie haben!“, befahl Pia an der Ausleitheke im Erdgeschoss, während sie ihren Dienstausweis zückte, „Und das am besten sofort!“. Das war ihr erster Hinweis, worauf, das wusste sie nicht, vielleicht nur darauf, dass Lina ihr Interessensgebiet gewechselt hatte, oder vielleicht doch auf etwas anderes, schlimmeres, düstereres!
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Kurze Zeit später fanden sich Pia und ihr Kollege vor einem Stapel von acht Ausgaben des besagten Erecs wieder: zwei waren momentan ausgeliehen und eine davon auch noch gestern kurz nach Linas Verschwinden. „Dann hoffen wir mal, dass wir hier fündig werden!“, stöhnte der Polizist neben Pia und fuhr sich mit einem Seufzer durchs kurze, blonde Haar. Die Kommissarin ignorierte sein Verhalten, sie wollte jetzt endlich loslegen, das Zusammensuchen hatte 20 Minuten in Anspruch genommen. 20 Minuten, die sie verspielt hatten, wenn es sich hier wirklich um einen Kriminalfall handeln sollte. Insgeheim hoffte Pia immer noch inständig, dass sie in einem der Bücher bloß einen Zettel mit den Worten „Ich bin dann mal weg, nach Australien, mich selber finden. LG Lina“ finden würde. Sie griff also zum ersten Buch vom Stapel und blätterte es durch, sie suchte nach etwas wie einer Notiz auf Papier oder im Buch selber, schüttelte es zum Schluss leicht, aber nichts fiel heraus. Ihr Kollege ahmte es ihr nach. Viermal, fünfmal, sechsmal der gleiche Ablauf, aber immer noch kein Erfolg, kein Hinweis, nur ein paar Kaffeeflecken und einen Wasserschaden hatten sie bis jetzt entdeckt. „Letzte Chance“, murmelte Pia, als sie und ihr Kollege die restlichen beiden Bücher vor sich hatten. Daran denken, was wäre, wenn sie jetzt nicht fündig würden, das wollte Pia nicht, also fing sie an zu blättern; Seite für Seite, starr haftete ihr Blick an den mittelhochdeutschen Versen (dass dies Mittelhochdeutsch war, hatte ihr übrigens Eva erklärt), doch auf den ersten 50 Seiten nichts Auffälliges. Auch nach 100 nicht und auch nicht nach 150 … „Hier ist auch nichts“, stellte ihr Kollege kurze Zeit später trocken fest und warf das Buch, das er gerade durchgeblättert hatte, zu den anderen, „Ich glaub‘, das ist Blödsinn, wahrscheinlich hat nur irgendein unachtsamer Student das Buch da liegen lassen und wir interpretieren da viel zu …“. „Hier ist etwas!“, Pia konnte es selbst kaum glauben, aber auf Seite 170 stand etwas in dunkelroten Lettern gekritzelt neben den Versen 2968 bis 2879, diese waren zudem mit derselben roten Farbe umrandet. „Er liebte sie so heftig,/ daß er seine ganze Ehrenstellung/ allein um ihretwillen aufgab“ stand dort im Text und in den kleinen blutroten Buchstaben daneben reihten sich die Worte: „Diese Schmach sollst du mir büßen, indem du für Heinrichs Heilung die Schuld auf dich nimmst.“ „Wer ist Heinrich?“, fragte ihr Kollege, der sich über Pias Schulter gebeugt und scheinbar die Buchstaben ebenfalls entziffert hatte. „Keine Ahnung!“, Pia schüttelte den Kopf, „Ich weiß es nicht, ich kann nur eines mit Gewissheit sagen, das hier ist mehr als bloß eine ausgebückste Studentin!“. Mit diesen Worten erhob sich die Kommissarin, schnappte sich ihre Jacke und wählte die Nummer ihres Chefs. Auf dem Weg nach draußen begegnete ihr Eva wieder, die sie mit großen Augen hinter der Hornbrille fragend anguckte. „Toni Buddenbrook ist naiv und fragil!“, antwortete Pia nur, die gerade keine Lust hatte, die Mitbewohnerin und beste Freundin, der nun offiziell Vermissten in Kenntnis über ihre ersten Ermittlungsergebnisse zu setzen.
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