13 Bücher lagen vor ihnen, Pia hatte das Gefühl eines De-Ja-Vus: Schon wieder durchblätterte sie auf der Suche nach Hinweisen die mittelhochdeutschen Werke des wohl sehr bedeutenden Autors Hartmann von Aue – diese Information hatte sie diesmal von Paul. „Dass ich da nicht früher draufgekommen bin!“, hörte Pia Paul zum gefühlt zehnten Mal flüstern, seit sie die Nachricht entschlüsselt hatten. Währenddessen blätterte er mit starrem Blick durch die dritte Ausgabe von Hartmanns Werken. Pias Blick wanderte in der Zwischenzeit stetig zwischen Handy und Buch hin und her, sie erwartete Rückmeldung – am liebsten irgendeine Positive. Derweil pendelten ihre Gedanken von der Studentin zum Inhalt des Buches, das sie hier in 13facher Ausführung vor sich liegen hatte. Im Armen Heinrich ging es darum, dass ein Edelmann namens Heinrich von Gott durch die Erkrankung an einem Aussatz –was das genau war, hatte Paul ihr erklärt, aber sie hatte es als „unwichtig“ abgestempelt und sofort vergessen – auf die Probe gestellt wurde. Daraufhin hatte dieser Heinrich, ähnlich wie Erec, das war sogar ihr aufgefallen, alles verloren und war zu seinen treusten Vasallen auf einen Hof geflüchtet. Die einzige Heilung von diesem Aussatz sollte das freiwillige Opfer einer Jungfrau sein. „Blutheilung“ nannte man das, auch dies hatte sie von Paul gelernt. Als Kommissarin jedoch fielen Pia da einige Begriffe ein, die diesen Umstand – ihrer Meinung nach – besser beschreiben würden. Und schon war sie in Gedanken wieder bei ihrem Fall und bei diesem widerlichen Spielchen, das der Täter da mit ihnen trieb. Der Täter, der unter Umständen dieser Professor war, der sich vor zehn Jahren in seine Studentin verliebt hatte und nun alte Rechnungen beglich. Pia kam die Stelle aus dem Erec in den Kopf und erschauderte bei dem Wortlaut, der nun nicht mehr bloß aus toten Versen bestand, sondern wie Frankensteins Monster zum Leben erwachte „Er liebte sie so heftig,/ daß er seine ganze Ehrenstellung/ allein um ihretwillen aufgab“, bzw. um ihretwillen aufgeben musste.
-
„Pia, ich glaub‘, ich hab‘ was!“, Paul holte Pia aus ihren düsteren Gedanken, sie saß noch vor ihrem dritten Exemplar und hatte ziellos durch die toten Augen der Bibliothek in die finstere Nacht gestarrt. Dementsprechend schreckte die Kommissarin bei Pauls Worten etwas zusammen, drehte sich aber sofort zu ihm um. Paul hielt ihr eine Seite unter die Nase. „Ich schneide sie bis zum Herzen auf/ und reiße es lebendig aus ihr heraus./ Junge Dame, sag mir jetzt, wie deine Absicht dazu ist. Es wurden nie einem Kind solche Schmerzen zugefügt, /wie es ihr durch mich geschieht!“, las Paul vor, was der Täter wieder rot umrahmt hatte. Diesmal jedoch, hatte der Verfasser der Nachricht auch etwas im Text geändert, er hatte drei Worte durchgestrichen und sie durch andere ersetzt. „Eigentlich müssten diese Verse lauten: Ich schneide dich bis zum Herzen auf/ und reiße es lebendig aus dir heraus./ Junge Dame, sag mir jetzt, wie deine Absicht dazu ist. Es wurden nie einem Kind solche Schmerzen zugefügt, /wie es dir durch mich geschieht‘“, erklärte Paul aufgeregt, „Das wurde aber so geändert, dass wir nun neben der Person die direkt angesprochen wird, wie auch bereits im Erec, noch ein weiteres Subjekt haben, das das Beschriebene erleiden muss.“ „Also wenn unsere Vermutungen stimmen, dann handelt es sich bei der Angesprochenen um Anna und bei derjenigen, die aufgeschlitzt werden soll…“, Pia stockte kurz, bevor sie mit bemüht fester Stimme fortfuhr: „um Lina.“ Paul nickte nur stumm, jegliche Aufregung war aus seinem Gesicht wieder verschwunden, nun war er etwas blass um die Nase. „Was steht da denn noch?“, Pia nahm Paul das Buch aus den Händen, „Slechte Sünd ærin du, all deine Verfehlungen in der Jugend werden nun wieder gut gemacht mit Heinrichs Heilung, außer du findest den Schlüssel zu Buße und Reue.“ Danach trat eine kurze Stille ein, Pia und Paul schauten sich bloß an, beide fühlten das gleiche Unbehagen. Ihnen beiden zog sich der Magen unangenehm zusammen, er schien schmerzhaft zu schrumpfen, genauso wie ihre Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang des Falls. „Bitte sag mir, dass du diesmal weißt, was das heißt, Paul!“, brach die Kommissarin die Stille und ihr Blick wurde nun fordernd. Paul sagte nichts, aber es schien in seinem Gehirn zu arbeiten, schon früher hatten sich dann, wenn er angestrengt nachzudenken begonnen hatte, kleine Falten auf seiner Stirn gebildet. Auch jetzt war dies der Fall, nur dass die kleinen Falten etwas tiefer geworden waren. „Die Stelle, die er umkreist hat, ist die Stelle, in der der Arzt noch einmal auf das Mädchen einredet, ob es sein Leben wirklich für Heinrich opfern lassen möchte. Jedoch ist die Tat noch nicht vollbracht, es gibt noch Hoffnung und damit auch Hoffnung für uns!“. Paul sprang plötzlich auf und bei seinen letzten Worten hatten seine Augen wieder zu strahlen begonnen, die die letzte Zeit trüb von Schuldgefühlen gewesen waren, weil er den ersten Hinweis erst so spät entschlüsselt hatte, „Buße und Reue sind nicht nur für die schlechte Sünderin, sondern auch für den guten Sünder der Schlüssel zur Erlösung!“, rief er aus, „Hartmann’s Gregorius!“.
Yorumlar