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#loudandproud: Meine Gedanken über die Leistungsgesellschaft

Aktualisiert: 31. Juli 2020

„Du musst gute Noten nach Hause bringen!“

„Du musst deine Arbeit gewissenhaft erledigen.“

„Du musst dich gesund ernähren.“

„Du musst fleißig sein.“

„Du musst immer gut drauf sein.“

„Du musst deine Ziele erreichen.“

„Du musst dein Bestes geben.“

„Du musst genügend Sport treiben.“

„Du musst Zeit für dich und deine Freunde haben.“

Und am Ende des Tages musst du dich auch noch selbst lieben.

Der Ursprung all dieser als „gute Ratschläge“ getarnter Vorschriften und Benimmregeln ist die Leistungsgesellschaft, in der wir tagtäglich unser Leben verbringen. Für Imperfektionismus, Schwäche oder Fehler ist hier kein Platz. Wir müssen alles immer besser, schneller, höher, weiter machen als der Rest, ansonsten sind wir nichts wert.

Diese Leistungsgesellschaft ist Produkt des menschlichen Strebens nach einem „Mehr“, das tief in uns verankert und zunächst einmal auch nichts Schlechtes ist. Aus dem menschlichen Streben nach Mehr geht auch viel Positives hervor; ohne es wären Fortschritt und Wachstum, Lernen und Verbesserung nicht möglich. Aber wie bei allen Dingen gilt auch hier der Grundsatz: Die Menge macht das Gift. Extreme sind nie gut, jegliche Form von Extremismus, aus welchem Ursprung er auch immer kommen mag, beinhaltet einen Strudel an Zerstörungskraft, der den einzelnen oder eine ganze Zivilisation mit sich in den Abgrund ziehen kann.

Während die Leistungsgesellschaft vor 50 Jahren primär nur den beruflichen Werdegang eines Menschen beeinflusste, geht ihre Wirkkraft in heutiger Zeit darüber hinaus. Durch Social Media ist der Druck, ein perfektes Leben zu führen, auch in unser Privatleben eingedrungen. Während wir 1970 noch traurig zuhause sitzen und wenigstens in den eigenen vier Wänden unsere Maske abnehmen durften, begegnen uns heutzutage 24/7 lächelnde Influencer auf Instagram, die auch im Privaten niemals eine Träne vergießen zu scheinen.

Der Druck wächst damit, auch dort „stark“ sein und funktionieren zu müssen, wo eigentlich unser letzter Safe-Place für das Zeigen unserer wahren Gefühle und das Eingestehen von Schwäche gewesen wäre. Der durch die Leistungsgesellschaft hervorgerufene Perfektionismus hat ein neues Level erreicht: Wir sollen jetzt nicht nur disziplinierte und überdurchschnittliche Arbeiter sein, sondern auch als Privatpersonen immer fröhlich, dankbar und ausgeglichen – jedenfalls wird uns das tagtäglich über verschiedenste Kanäle suggeriert.

Funktionieren wir nicht in dieser Form, schaffen wir es nicht die perfekte Work-Life-Balance zu finden und alles im Leben mit einer unbefangenen Leichtigkeit zu nehmen, fühlen wir uns schnell wie ein Fehler im System. Deshalb geben wir uns nicht mehr die Zeit, die wir brauchen, deshalb lassen wir negative Gefühle nicht mehr zu und deshalb schleppen wir uns tagtäglich durch unser Leben, obwohl wir uns am Liebsten die Decke über den Kopf ziehen würden. Wir achten nicht mehr auf uns selbst, sondern nur noch auf das Bild, das die Gesellschaft von uns hat bzw. haben soll.

Es setzt ein selbstzerstörerischer Prozess ein, der nur schwer aufzuhalten ist. Kein Wunder, dass die Zahl der Personen mit psychischen Erkrankungen stetig steigt, ein Burn-Out oder Depressionen sind die logische Folge aus all dem Stress, dem Druck, dem Perfektionismus.

Wir leben in einer Welt, die uns immer mehr Raum für unsere Persönlichkeit nimmt. Wie Rädchen in einem Getriebe sind wir nur solange gut, wie wir funktionieren. Danach werden wir aussortiert, auf die Müllkippe geworfen und vergessen. Alles ist mechanisiert, nicht nur das Ziel ist vorgegeben, sondern auch der Weg, den wir gehen sollen. Für persönliche Probleme, die alltäglichen kleinen Struggle und Fehler, aus denen wir lernen können, ist kein Platz. All das wird übergangen, wegrationalisiert, aus unserem Lebenslauf getilgt, bevor es überhaupt passieren kann.

So kann es nicht weitergehen. So darf es nicht weitergehen. Wir müssen uns selbst das Stückchen Freiheit zurückerobern, was uns erlaubt, auch mal einen schlechten Tag zu haben, was uns erlaubt, auch mal zu Weinen statt zu Lächeln, was uns erlaubt, auch mal zu sagen: „Nein, heute Abend habe ich keine Lust, etwas mit anderen zu machen.“ Wir brauchen wieder eine gewisse Unabhängigkeit, die es uns ermöglicht, Arbeit auch mal liegen lassen zu können, an sich selbst zweifeln zu dürfen, auch wenn wir jeden Tag Selbstliebe gepredigt bekommen und diesen verdammten, vor Fett triefenden Burger zu essen, ohne das irgendjemand sagt: „Das ist aber nicht gut für den Blutzucker.“

Ein bisschen mehr „Scheiß-Drauf-Mentalität“ würde uns allen guttun, bevor wir noch an dem uns 24 Stunden pro Tag umgebenden, direkten und indirekten Leistungsdruck zugrunde gehen. Denn das ist es einfach nicht wert; das Leben ist zum Leben da, zum Fühlen, zum Genießen, zum Mit-Allen-Sinnen-Wahrnehmen und nicht dafür, um Tag für Tag wie Rädchen im Kreis zu laufen, nur weil man keine andere Wahl zu haben scheint.

„Scheiß drauf“ auf alle die Selbstliebeprediger, die Abnehmcoaches, die „Mach-dich-selbst-zum-CEO- deines- Lebens“-Menschen, die nörgelnden Chefs, die immer-kritischen Mütter, die erfolgreicheren Arbeitskollegen. Du entscheidest, wonach du dich heute fühlst, was du leisten kannst und willst und vor allem, was dich glücklich macht.

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