Ich möchte heute ein Gedankenexperiment wagen, eine Visualisierung der menschlichen Seele in einem einfachen Bild: einer Kommode. Auch wenn Schubladendenken zurecht mittlerweile stark kritisiert wird, dient es in diesem Falle zur Veranschaulichung und Vereinfachung der Komplexität unseres emotionalen Innenlebens – ich denke, dies Argumentation ist haltbar und sollte niemanden diskriminieren. Also fangen wir an:
Die menschliche Seele spiegelt all unsere Erfahrungen, Wünsche und Bedürfnisse wider, welche wir über unser Leben angesammelt haben. Die Schubladen bilden daher Kategorien bzw. Lebensbereiche, die wir mit den o. g. Elementen füllen. Dementsprechend sind einige von ihnen vollkommen ausgefüllt, andere sind chaotisch wie eine Sockenschublade und wieder andere wohl organisiert mit einzelnen Fächern für bestimmte Erlebnisse und Vorstellungen. Doch gibt es auch Schubladen, die diesen Bildern nicht entsprechen und das sind z. B. diejenigen, die vollkommen leer sind.
Sie besitzen zwar ein Label, vorne steht wie an einem Aktenschranke in einem kleinen Schildchen eine Bezeichnung dessen, was sie eigentlich bergen sollten. Doch öffnet man sie, strahlt einem gähnende Leere entgegen. Man sieht sich um, man sucht in anderen Schubladen nach Elementen, die man hier hereinsortieren kann. Die leere Fläche ist nämlich wie ein Vorwurf, wie ein Drängen, man solle doch etwas hineinlegen. Das Gleichgewicht der Kommode sei gestört durch diese unbefüllten Fächer, die Stabilität leidet, denn die anderen Schubladen drücken die Leere zusammen. Der Boden der oberen biegt sich durch, in der leeren Schublade ist nichts, was diesem Umstand entgegenwirken und ihn stützen könnte.
Was hier fehlt, ist bei jedem von uns unterschiedlich. Es gibt Erfahrungen, die wir nie gemacht haben. Leerstellen in unserem Leben, die wir nicht so einfach füllen können, denn ihren Inhalt müssen wir selbst kreieren. Andere haben es hier einfacher, sie bekommen von ihren Eltern, Freundinnen und Freunden, anderen Bezugspersonen und dem Leben selbst diese prall gefüllt. Zumeist kennt man diese Art von Fülle auch aus anderen Schubladen, die ähnlichen Inhalt besitzen und bei anderen vielleicht leer sind.
Es ist keine Schande, leere Schubladen zu haben. Aber es ist einer Herausforderung. Eine Aufgabe, welche erledigt werden muss, um die Kommode in Stand zu halten und vor dem Kollaps zu bewahren. Ja, es ist einfacher, Fächer zu befüllen, welche bereits mit erfolgreichen Erfahrungen und erfüllten Bedürfnissen vollgestopft sind. Wir wissen, was zu diesen Schubladen passt und sammeln daher auf diesen Gebieten immer mehr Inhalte an – ihre Einordnung fällt uns nicht schwer. Aber diese gähnende Leere in den oft verdrängten Schubladen mit Leben zu füllen, ist nicht einfach. Manchmal haben wir sogar das Gefühl, es sei unmöglich. Wir haben keinen oder nur einen abstrakten Plan, wie etwas aussieht, was hierein gehört. Keine unserer Erfahrungen scheint hier auf den ersten Blick hineinzupassen. Doch denken wir nach, nehmen die Beschriftung auf dieser Schublade nicht zu wortwörtlich und suchen vielleicht auch nach den fehlenden Gegenständen in uns selbst, kann es uns gelingen, langsam aber stetig gewisse Schubladen zu füllen und die Stabilität unserer Seelenkommode wiederherzustellen.
Neben den leeren Fächern gibt es auch noch die, welche einen doppelten Boden besitzen. Auf den ersten Blick ist die Schublade gefüllt mit präzisen Vorstellungen, Plänen und Erfahrungen. Doch unter ihnen, versteckt unter einem weiteren Boden, liegt noch etwas anderes. Dinge, die wir uns selbst nicht zugestehen, die wir denken, niemals erreichen zu können oder sie nicht verdient zu haben. Doch diese Wünsche sind da, sie leben ein Leben in Dunkelheit. Kommen nur hervor, wenn die Schublade mal aus der Kommode fällt und sich ihr Inhalt auf dem Seelenteppich ergießt.
Die eigentlich versteckten Elemente bewahren z. T. zu unserem Selbstschutz dort in Unsichtbarkeit auf, teils haben aber auch andere Personen diese dort eingeordnet – mit der bewussten oder unbewussten Absicht, dass wir den Inhalt vergessen mögen. Doch all diese Dinge sind noch da, auch wenn sie nicht an der Oberfläche weilen und vielleicht auch nicht, in das Sammelsurium der eigentlichen Schublade passen. Nach diesen Elementen zu kramen, ist nicht immer angenehm. Sie stellen in gewisser Weise etwas dar, was uns Angst macht, weil wir uns nicht trauen, dafür einzustehen, sie zu wollen oder wir einfach aufgrund von Traumata und Verletzungen nicht in der Lage sind, sie in unser Leben zu integrieren. Doch es lohnt sich, die Inhalte unter dem doppelten Boden hervorzuholen, sie eingehender und vor allem realistischer zu betrachten statt mit einem von negativen Emotionen verzerrtem Blick. Und wenn wir dann irgendwann so weit sind, können wir diese Wünsche und Bedürfnisse vielleicht sogar mit anderen teilen und ihnen damit Stück für Stück ihrer staubigen Existenz entziehen. Denn auch ihnen sei es erlaubt, dass sie uns anstrahlen dürfen und nicht ihr Leben in Dunkelheit fristen müssen.
Natürlich gibt es noch mehr Schubladen, Fächer und sonstige Aufbewahrungsmöglichkeiten in unserer Seelenkommode. Alle sind unterschiedlich – vom Inhalt, vom Aufbau, von ihrer Bedeutung für die Gesamtstabilität. An dieser Stelle wollte ich nur die Zeit nutzen, um zwei Arten von Schubladen näher zu beleuchten, welche mich immer daran erinnern, dass es noch einiges zu tun gibt. Ich kann mich nicht nur auf die wohlgeordneten Schubladen fokussieren, sondern muss auch mal in die anderen schauen und dort auch genau hinschauen, um das Leben zu führen, was ich wirklich haben möchte: Glücklich und zufrieden.
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