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AutorenbildJacqueline

#nachgedacht: Mal wieder über Selbstliebe

Ich weiß, dass das für manche jetzt vielleicht direkt wieder „zu ekelig“ wird, weil ich generell dazu neige, Dinge offen anzusprechen, die dem ein oder anderen aus nachvollziehbareren oder auch mir vollkommen unverständlichen Gründen unangenehm sind. Trotzdem oder insgeheim auch deshalb, möchte ich nicht über solche Themen schweigen und starte meinen heutigen Blogbeitrag mit der Aussage: „Die letzten beiden Wochen hatte ich Lippenherpes!“. Eine Diagnose, die für mich die letzten 24 Jahre eigentlich Grund genug gewesen wäre, mich für zwei Wochen zu verbuddeln, zum Islam zu konvertieren, um eine Burka tragen zu dürfen oder anzufangen, mich für einen Anime-Fan auszugeben, der einen Mundschutz als hippes Accessoire in seinen Gesamtlook integriert. Doch diesmal war alles anders. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich die Fieberbläschen auf meiner Lippe akzeptieren. Ich würde sie immer noch nicht als ästhetischen Mehrwert bezeichnen und glaube auch nicht, dass Lippenherpes jemals zum modischen Must-Have wird, wie es dem langzeitverkannten Leberfleck im 17./18. Jahrhundert passiert ist. (Mehr dazu findet ihr übrigens, wenn ihr mal „Mouche“ googelt bzw. ecosiat – Kurzer Funfact in diesem Zusammenhang: Mein Lippenherpes würde in Analogie zum Mouche-Code bedeuten, dass ich zu den „les coquettes“ gehöre.) Aber mein Lippenherpes mutierte diesmal tatsächlich vom biblischen Weltuntergang zu einer objektiven Tatsache, die einfach nur den Fakt widerspiegelte, dass ganze 85 Prozent der Deutschen jenen Virus in sich trägt und ich somit eine unter vielen bin. Aber warum habe ich früher darunter so gelitten, wenn ich Herpes hatte?

Ganz einfach, weil ich nicht den Herpes an sich eklig fand, sondern tatsächlich in der Zeit des Ausbruchs meine ganze Person. Ich habe mich total über diese Äußerlichkeit definiert und habe das damit „gerechtfertigt“, dass alle anderen das ja genauso sehen würden. Ich muss dazu, glaube ich, gar nicht viel mehr sagen. Ich denke, jeder kennt dieses Problem: Man denkt, zu wissen, was andere denken, dabei denkt man aber nur, es zu wissen und weiß es nicht wirklich. Dies hat zur Folge, dass man sich mit seinen eigenen Gedanken, die man anderen in den Kopf und Mund legt, fertig macht. Man sieht nicht, dass die meisten Leute im eigenen Umfeld, wahrscheinlich ähnlich auf einen mit Herpes reagieren, wie man selbst auf Menschen mit Herpes reagiert. Niemand würde z. B. seiner besten Freundin die Freundschaft aufkündigen, nur weil sie Herpes hat und auch den Schwarm würde man mit Lippenherpes wohl noch genauso toll finden wie vorher. Aber warum ist man mit sich selbst so hart?

Eine Frage, die ich mittlerweile beantworten kann. Aber schonmal vorweg, diese Antwort ist keine leichte Kost, weil sie wahr ist. Man ist nämlich so ungerecht zu sich selbst, weil man sich weniger mag als die beste Freundin oder den Schwarm. Es fehlt an grundlegender Selbstakzeptanz und darüber hinaus an Selbstliebe. Hier liegt der Ursprung allen Übels. Und so passiert es, dass man sich schnell über seine Makel identifiziert; dass man nicht nur Herpes hat, sondern Herpes ist. Das funktioniert übrigens auch mit allem anderen, was man nicht an sich mag. Das können die vermeintlich zu dicken Oberschenkel sein, der flache Busen oder die krumme Nase. Es ist egal, was es im Expliziten ist. Alles kann zur Zweifel-Zecke werden, die sich im Gehirn einnistet, sich von Selbstzweifeln ernährt und im Endeffekt größer wird als das Gehirn an sich. Die Ratio kommt dagegen nicht mehr an und so passiert es zwangsläufig, dass man sich über unwichtige und vermeintlich „negative“ Äußerlichkeiten definiert. Besonders paradox in diesem Kontext ist auch, dass man sich stetig bemüht, bei Fremden oder auch Bekannten bloß nicht oberflächlich zu sein, während man bei sich selbst den größten Kritiker raushängen lässt. Es ist fast schon ironisch, dass man bei dem Menschen, den man am besten auf der ganzen Welt kennt, mehr auf die Optik achtet als bei allen anderen. Evolutionär wäre es sogar irgendwo noch vertretbar, eine gewisse Oberflächlichkeit Fremden gegenüber an den Tag zu legen, weil man ja entscheiden muss, ob der Gegenüber gleich mit seiner Axt auf einen losgeht oder nur beim Holzhacken helfen möchte. Aber bei sich selbst?! Leute, das ist so hirnrissig und vor allem so traurig, dass das ein Problem ist, was nicht nur ich habe, sondern viele!

Also, brecht aus eurem Hamsterrad der Selbstzweifel gegenüber eurer eigenen Optik aus, seht endlich, was sich unter der Oberfläche verbirgt: Eure ganzen liebenswerten Charaktereigenschaften, eure tollen Talente und wunderbaren Fähigkeiten, denn nur das ist, was wirklich zählt. Das macht einen Menschen (auch längerfristig) attraktiv und wertvoll als Person. Ihr seid es wert, insbesondere von euch selbst geliebt zu werden, egal, ob ihr grad Herpes oder 5 Kilo zu genommen habt. Zieht die Zweifel-Zecke und gebt endlich eurer Ratio wieder eine Chance, klar denken und sehen zu können. Und cooler Nebeneffekt: Wenn ihr euch selbst annehmen könnt, wie ihr seid, dann fällt es euch auch bei anderen direkt leichter. Der ewige Kreis und so! Auch ich definiere mich nun endlich nicht mehr über sowas wie Lippenherpes. Auch wenn der nicht schön ist, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht schön sein kann. Es heißt einfach nur, dass ich eine von 85 Prozent bin. Es heißt einfach nur, dass ich diesen Virus in mir und gerade auch nach Außen trage. Und deshalb muss ich lange noch nicht konvertieren, mich mit Erde zuschaufeln oder einen Mundschutz in der Öffentlichkeit tragen. Ich kann sogar auf Dates gehen – mit Herpes und mit ganz viel Selbstbewusstsein. Und wisst ihr was? Das tue ich heute sogar, ich geh‘ auf mein erstes Blinddate in meinem Leben. Also, wish me luck and love yourself!

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