Was in unserem Kopf vorgeht, bleibt für die Außenwelt meistens ein Geheimnis. Und doch bestimmt die Außenwelt stark, wie wir unser Denken und Fühlen, unsere kognitiven Prozesse, die sich 24/7 in unserem weitverzweigten Oberstübchen abspielen, wahrnehmen und bewerten. All dies ist oftmals verbunden mit der Suche nach unserer „wahren“ Persönlichkeit: Wer sind wir wirklich? Was ist uns wichtig? Welche Werte und Maßstäbe beeinflussen unser Handeln und unsere Entscheidungen?
Viele haben das Idealbild von einem homogenen, in sich konsistenten Ich, welches uns in Kontakt mit Medien und Gesellschaft als gesund und normal präsentiert wird. Meist sind Charaktere in Filmen, Serien und Büchern genau auf diese Weise konzipiert; sie handeln und denken nach bloß einem Schema und wenn es Entwicklung gibt, dann bloß von A nach B: Das eine Schema wird durch ein anderes ersetzt. Damit kongruiert das Bild von einem psychisch stabilen Menschen in unserer Gesellschaft; Abweichungen von dem, was als die bekannte Persönlichkeit wahrgenommen wird, werden negativ konnotiert und mit Unverständnis gestraft. Aussagen wie „Warum macht sie das? Sie ist doch sonst nicht so“ oder „Das sieht ihm gar nicht ähnlich!“ sind verbreitete Reaktionen und lassen die Betroffenen in vielen Fällen an sich selbst zweifeln. Die Folgen sind Angst, Unsicherheit und das Infragestellen der eigenen Person; das Selbstbild leidet stark unter diesem vollkommen realitätsfernen Konzept von einem Menschen – eine Persönlichkeit.
Richard David Precht fragte sich 2007: Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Und in diesem Buchtitel steckt schon die Wahrheit und die Bloßstellung des Prinzips einer eindimensionalen Persönlichkeit als Bullshit. In unserem Kopf sitzt nämlich nicht nur die eine Person, die alles entscheidet. Unsere Psyche mit allem, was dazu gehört, ist nun mal bestenfalls keine Diktatur oder Monarchie mit einem Alleinherrscher. Sie ist ein Konglomerat von vielen Persönlichkeitsanteilen in uns und im Idealfall eine Demokratie, in der Mehrheitsentscheidungen uns zu der besten Variante unserer Selbst machen.
Freud hat dies mit seiner Theorie des Triumvirats von Es, Ich und Über-Ich (oder wie ich Letzteres gerne nenne „Frau Sybille Cordula Schmitz- Schulze“) bereits angedacht, jedoch würde ich sagen, dass eine Dreiteilung unserer Persönlichkeit nicht ausreicht, um ihrer Komplexität gerecht zu werden.
Wir sind nämlich meiner Meinung nach die „Summe all unserer Erfahrungen“ und diese kann man nicht bloß in drei Kategorien unterteilen. Vielleicht bilden sie da Oben in unseren Hirnwindungen so etwas wie Fraktionen, aber trotzdem sind sie alles im allem noch sehr selbstständig und nicht einfach so in drei Schubladen zu stecken.
Stattdessen sitzen sie in unserem kognitiven Ratssaal zusammen und wägen gemeinsam ab, was getan und was im besten Fall vermieden werden sollte. Und so wie in jeder menschlichen sozialen Gruppe auch gibt es hier lautere und leisere Kandidaten, Seiten von unserer Persönlichkeit, die sich öfter und weniger oft zu Wort melden. Manche erheben auch nur bei ganz spezifischen Thematiken das Wort, andere können und wollen zu allem ihren Senf beisteuern. Ich glaube, ich muss nicht noch erwähnen, wie konfliktträchtig diese Zusammensetzung sein kann. Wichtig ist es mir jedoch hier, zu betonen, dass das vollkommen normal ist.
Es ist ebenfalls vollkommen normal, dass manche Persönlichkeitsanteile das ein oder andere Mal in unserem Leben, Putschversuche starten. Sie wollen die Macht vollkommen an sich reißen und manchmal gelingt ihnen dies auch. Oft sind es Ich-Zustände aus der Vergangenheit: Z. B. ein unsicheres Teenager-Ich geprägt von Mobbing und einem falschen Schönheitsideal oder das berühmte verletzte innere Kind, das sich nach Sicherheit, Liebe und Anerkennung von emotional unerreichbaren Personen sehnt. Jene Persönlichkeiten aus Kindheit und Jugend können schnell mal das Steuer in die Hand nehmen und das Leben mit voller Wucht gegen die Wand fahren. Bestes Beispiel übrigens dafür, warum man erst mit 18 Jahren Autofahren darf.
Doch nun stellt sich die Frage, wie man solche Situationen verhindern kann. Wie es sich vermeiden lässt, dass insbesondere nicht sehr wohlwollende und emotionsberauschte Persönlichkeitsanteile die Kontrolle übernehmen, obwohl sie existent sind. Leider ist es nämlich nicht möglich, diese einfach aus dem Ratssaal zu schmeißen und wenn doch, dann brüllen sie durch die Tür. Deshalb geht kein Weg daran vorbei, diese anzuhören und sich vor allem klarzumachen, wer da überhaupt spricht und besonders mit welchem emotionalen und Erfahrungsbackground. Hat man diese identifiziert, kann man sich dann doch recht einfach gegen deren Vorschläge entscheiden, denn Hirn sei Dank gibt es ja noch vernünftigere und vor allem weiterentwickelte Persönlichkeiten, die dem ganzen Kinderkram Einhalt gebieten können.
Wir sind also nicht alles, was in unseren kognitiven Sphären so an Wortmeldungen herumkreist. Vieles, was wir denken, sind wir vielmehr mal gewesen und wir haben die freie Entscheidung darüber, wem wir am Ende des Tages von unseren Persönlichkeiten das Recht geben, unser Handeln und unser Mindset zu bestimmen. Hat man diese Einsicht gewonnen, lebt es sich ein bisschen leichter - finde ich jedenfalls - und vor allem kann man sich und auch andere besser verstehen.
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