Es ist Punkt 9 Uhr, mein kleines Ich steht zögernd vor der Tür von Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulzes Büro. Bereits jetzt fragt es sich, ob es eine kluge Entscheidung war, die Polster seines Lieblingssessels zu verlassen. Außerhalb des plüschig-weichen Mobiliars ist die Welt doch um einiges kühler und gefährlicher. Die neuronalen Vernetzungen um mein Ich pulsieren bereits unheilverkündend und doch nimmt es all seinen Mut und seine Resilienz zusammen, hebt die kleine Faust und … die Tür schwingt auf: Vor sich sieht mein kleines Ich den personifizierten Doppelnamen, welcher es direkt zurechtweist: „Es ist 9.01 Uhr – wenn ich ein Teammeeting einberufe, dann setze ich Pünktlichkeit voraus.“ „Aber schön, dass du da bist!“, fährt Frau Schmitz-Schulze etwas gnädiger fort und macht eine steife Geste, die mein Ich wenig freundlich, eher mit voller Befehlsgewalt, im Büro Platz zu nehmen bedeutet.
Zögerlich tritt mein Ich ein; der Raum ist versehen mit Schädeldecken hohen Regalen voller säuberlich abgehefteter Dokumente, ein Faxgerät piept in einer Ecke und auf dem Schreibtisch, der die Mitte des Raumes bildet, stapeln sich Formulare, Ordner und Heftmappen. Als sich mein Ich auf den Schemel vor dem gewaltigen Arbeitsplatz Schmitz-Schulzes setzt, vermisst es umso mehr seinen weichen, roten Sessel. „Weißt du zufällig, wo unser ES sich wieder mal rumtreibt? Wir haben Dienstbesprechung“, konstatiert Sybille Cordula Schmitz-Schulze forsch und wirft meinem Ich einen genervten Blick zu, „Es ist mittlerweile schon 9.03Uhr!“. „Ich denke, ES ist noch in seiner Höhle“, erwidert mein Ich kleinlaut und scheitert bei dem Versuch, sich auf dem Schemel zu verkriechen, noch nicht mal seine Beine kann es auf der kleinen Sitzfläche anziehen.
„So dann“, sagt Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulze, strafft die Schultern und macht sie auf den Weg durch das Durchgangszimmer zum Höhlenseparee des kleinen Giftzwerges. Mein Ich hört wenige Sekunden später ein lautes Klopfen, das fast schon klingt, als würde die gute Frau Doppelnamen ihrer spindeldürren Gestalt zum Trotze geradewegs die Tür einschlagen. „ES, komm‘ raus – wir haben jetzt Dienstbesprechung!“, ruft diese im Anschluss, doch keiner scheint zu antworten. Erneutes Klopfen, erneutes Rufen. Stille. Dann wird die Tür aufgerissen, es erklingt ein wütendes Geschrei, aus dem manch ein empathischer Mensch ebenfalls ein gewisses Wehklagen vernehmen könnte und mein Ich hört Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulzes Kittenheels über den Boden stöckeln, während das Geplärre sich ebenfalls nähert.
Einen Augenblick später erscheint auch schon dieselbige im Büro, das sich windende und schreiende ES an den Haaren hinter sich herziehend. „So, dann sind wir jetzt komplett und können mit der Tagesordnung beginnen“, verkündet Frau Schmitz-Schulze über die wilde Tonkarambolage des ES‘ hinweg. Einen kurzen Moment empfindet mein Ich sogar fast Mitleid für das kleine, stämmige Wesen, welches da gerade hereingezerrt worden ist und nun mit hochrotem Kopf das Büro zusammenschreit. Doch letzterer Punkt sorgt dann auch wieder ganz schnell dafür, dass der Hauch von Mitleid, den mein Ich kurz davor war zu empfinden, in einem großen Bogen an ihm vorbeifliegt. „Also, warum sind wir nochmal hier?“, will mein Ich dann wissen, „Gibt’s etwas Wichtiges?“.
„Natürlich“, erwidert Frau Schmitz-Schulze irritiert, „Alles wird sich ändern, wir müssen uns neuformieren. Es muss Ordnung in dieses Chaos gebracht werden. Wir haben jetzt bald wieder einen Job und brauchen demnach dringend wieder eine Tages- und vor allem Arbeitsroutine! Also, wer hat Vorschläge?“. Während mein Ich zustimmend einfach nichts sagt, wird es plötzlich für einige Sekunden um das ES ganz still. Dann verschränkt es seine kleinen, dicken Ärmchen vor dem noch dickeren Bäuchlein, welches – wenn mein Ich sich nicht verguckt hat – seit den letzten „anderthalb Monaten des Nichtstuns“ (wie die gute Sybille Cordula Schmitz-Schulze es trotz des Haufens an mentalem Papierkram so gern betitelte) um einiges gewachsen ist. Das Es hebt nach einer kurzen Atempause dann auch schon sein feines, alles erzittern lassendes Stimmchen. „Ich habe die beste Routine ever“, brüllte es, „Schlafen, Essen, Ausruhen, Essen, Ausruhen, Essen, Schlafen. Alle Bedürfnisse gestillt!“. „Danke für deinen Beitrag, aber dies ist nicht mehr hinnehmbar“, würgt Frau Schmitz-Schulze den dicksten Mitbewohner in meiner kognitiven Hölle ab, „Ab heute brauchen wir Disziplin und Ordnung hier oben. Wir stehen um 6 Uhr auf, machen dann eine Runde Morgensport …“. „Morgensport! Du und Morgensport?“, schreit das ES plötzlich lachend, „Seit wann ist 20 Ordner Balancieren eine Sportart?“. Frau Schmitz-Schulze kräuselt ihre Lippen, sie scheint kurz davor, etwas zu erwidern, fährt dann aber doch in ihrem wohleingeübten Text fort: „Wenn wir uns körperlich betätigt haben, beginnt auch schon die erste Arbeitsphase des Tages.“ „Ähm“, meldet sich mein kleines Ich zögerlich zu Wort. Über diese Unterbrechung sichtlich verwundert wirft die Person hinter dem großen Schreibtisch meinem Ich einen skeptischen Blick zu. „Ähm, können wir dazwischen vielleicht nicht doch noch eine gemütliche Kaffeepause einlegen oder so?“, fragt mein Ich betont leise. „Jap, Kaffeepause find ich gut“, springt das ES überraschend engagiert der Meinung meines Ichs bei, „Kaffeepause bis 12, dann Mittagessen und dann erstmal Siesta – so machen wir’s“. Mit diesen Worten richtet es sich auf, stemmt die beiden kleinen Ärmchen in die Seiten und schaut mit labil funkelnden Augen in die Runde: „Ist es das dann jetzt alles gewesen?“. „Nein, ist es nicht!“, insistiert Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulze, die sich scheinbar nach dem Beitrag des instinktgesteuerten Persönlichkeitsteils erstmal sammeln musste, „Es ist 9.11Uhr und …“. Mein Ich kann die Aussage nur vage in Gedanken mit „Das Teammeeting hat doch gerade erst angefangen“ vervollständigen, denn das ES deutet süffisant auf die Uhr und verlässt den Raum sichtlich zufrieden mit den Worten „ … und daher Zeit für eine gemütliche Kaffeepause in unserer neuen Tagesroutine!“. Das lässt sich auch mein Ich nicht zweimal sagen und huscht mit eingezogenem Kopf und ebenfalls einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht aus Schmitz-Schulzes Büro.
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