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AutorenbildJacqueline

#nähkästchen: Festival-Fever

Festival. Eine neue Erfahrung für mich. Eine neue Erfahrung, die mich geprägt hat. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren, als der erste Gitarrenriff gespielt wurde und habe mich treiben lassen – auf der Woge der Musik, auf den Wellen der Begeisterung, in den Fluten der Lichter und Eindrücke. Es war, als wäre nichts, nur der Moment. Die Zeit blieb stehen und nur der Beat des Schlagzeugs imitierte am entferntesten das Ticken einer Uhr.


Ich löste mich auf in Stimmen und Stimmung, der Alltag verlor sich mit jedem Takt und die Sorgen flogen mit den Seifenblasen aus dem Publikum hin zur Bühne. Dort zerplatzten sie, als wären sie niemals wichtig gewesen, als wären sie bloße, bläulich schillernde Gebilde, die mein Kopf kreiert hatte, um nicht ganz so leer zu sein.

Musik. Auf einem ganz neuen Level. Plötzlich mit allen Sinnen wahrnehmbar. Im Ohr spielen die Symphonien, das Auge kann sich nicht satt sehen am Bühnengeschehen, die Füße vibrieren vom Bass. Ich kann plötzlich jede Note schmecken, die sanften Klänge schmecken süß, die Molltonarten bitter und alles ist gehüllt in den Duft von Endorphinen.


Es ist, als wäre ein Gemälde lebendig geworden, als würde es mich hineinziehen in seine eigene Welt, als würde ich einen Schritt über den Bilderrahmen machen und befände mich mittendrin in Van Goghs Mondnacht. Ich löse dich auf, um ein Teil von etwas anderem zu werden – ich bin nicht mehr ich, ich bin Festival.


Das Leben. Für diesen Augenblick gibt es dies nicht mehr. Ich lebe nicht mehr, ich bin nur noch hier. Hier an diesem Ort, in diesem Moment und es gibt nichts dort draußen außer Leere. Aber hier ist Leben, hier schlägt der Puls der Zeit, mein Puls im Einklang mit der Base Drum. Nichts ist mehr wichtig, keine Mails, kein Anruf, keine WhatsApp-Nachricht, das Außen existiert nicht mehr, denn was relevant ist, passiert nur hier. Wo auch sonst? Denn ich bin hier und nirgendwo anders, all mein Fühlen, all mein Denken, all mein Sein gibt sich hier auf, um sich vollkommen der Musik hinzugeben. Dem Rausch, dem Rauschen, dem Raunen und Atemraubenden.


Alles ist hier. Alles andere ist nichts. Es ist, als ob jedes Lied von mir handelt, von meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart, meiner Zukunft. In fühle Schmerz und Freude, Enttäuschung und Überraschung, Liebe und Hass, große Gefühle und kleinste Regungen. Ich weine, du lachst, ich atmes erleichtert auf, du staunst und wir spüren so viel und so viel, was lange in uns verborgen lag.

Was wir schon lange nicht mehr wahrgenommen haben, nicht mehr wussten, dass es überhaupt existiert, dass es immer noch ein Teil von uns ist und gehört werden will. Nun ist es soweit, hier kann es endlich atmen. Es bricht aus uns heraus, es knackt unsere harte Schale und entblößt den weichen, weisen Kern. Und es ist okay. Wir brauchen keine Angst haben, den jeder fühlt das Gleiche auf seine eigene Art, in seiner eigenen Tonart – wir sind nicht allein. Ich bin nicht allein.


Ich bin dabei. Ich bin mittendrin. Ich bin kein Individuum mehr, das alleine kämpfen und all die Verantwortung sowie die Anstrengung des Lebens tragen muss. All die Menschen um mich herum, ob groß, ob klein, ob schwarz, ob weiß, ob Ultra-Metal-Head oder pinkes E-Girl – sie alle sind grad bei mir und tragen mit, was es zu tragen gibt. Und plötzlich wird alles ganz leicht. Denn alle eint, was hier passiert. Die Musik verbindet, was sonst lose ist. Sie zeigt, was sonst verborgen bleibt. Sie heilt, was sonst verletzt ist. Sie verbindet, was sonst getrennt ist. Sie zieht alle in ihren Bann, verbannt Unterschiede und bandagiert unsere wunden Seelen, die sich nach Unbeschwertheit und Zusammenhalt sehnen.


Vielleicht klingt das alles viel zu euphorisch, vielleicht klingt es wie ein einziger Euphemismus, wie eine plumpe Aneinanderreihung von musikalischen Topoi ohne jeglichen tieferen Sinn und Verstand. Vielleicht ist es das Delirium, was noch aus mir spricht, wenn ich an die Glücks trunkenen Momente denke, als ich in der Menge stand und mir bei „When September Ends“ die Tränen einfach so über die Wangen gerollt sind. Vielleicht ist es aber auch wirklich so gewesen, vielleicht ist wenigstens ein bisschen auch so für alle anderen gewesen, die auch dort sich all dem hingegeben haben. Die mit mir diese Momente geteilt haben, die mit mir gelacht und geweint haben, die mit mir erlebt haben, was es zu erleben gab: Musik, Melancholie und eine kleine Prise Manie.

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czc80819
Jun 26, 2022

Meine Seele wurde heute sanft geweckt aus ihrer schwarz-kalten Hibernation. Sprachlich gewobene Wunderklänge, sprühend vor Eloquenz und Anmut, öffneten eine längst verloren geglaubte Innenwelt meiner Gefühle. Deine erhaben-poetische Wortsymphonie entzündeten meine Hoffnung und erleuchteten das rabenschwarze Firmament meines Lebens, veränderten in sanfter Weise die Konstellation meiner Glücksvektoren. Kennst Du diesen einen Moment der Perfektion? Diesen Moment, in dem sich zwei Seelen eins sind, weil sie sich fühlen, einander verstehend und in perfektem Wechselspiel den Wirren des Lebens gemeinsam entkommen? Dieser Moment war der meinige. Dein nobel wahres Werk befahl den Kräften des unendlichen Universums die Vereinigung; es setzte oszillierend in Bewegung, was längst eingeschlafen. Die wahrhafte Diffusion der Glückspartikel in meinem Körper permittierte meinem Ich den Ausbruch aus dieser verkommenen Welt. Auch…

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