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AutorenbildJacqueline

Prost Neujahr! Vorhang auf für die WG in meinem Kopf

Schon lange habe ich euch schon nicht mehr an diesen Ort mitgenommen. Ein paar Monate blieb der Vorhang geschlossen, während dort hinter auf der Bühne das alltägliche Chaos tobte. Nun, meine Lieben, ist es aber mal wieder Zeit für einen Blick hinter die zerebralen Kulissen. Dementsprechend: Herzlich Willkommen in der Höllen-WG in meinem Kopf!

Es ist Sylvester. Mein kleines Ich sitzt in seinem Sessel, beide Türen zur linken und zur rechten Seite sind verschlossen. Aus dem Raum von Sybille Cordula Schmitz-Schulze hört man nur ab und zu wie Ordner hin- und hergeschoben werden. Aus der Höhle des ES ist Gemurmel zu vernehmen, doch die Rauchschwaden, die sich ihren Weg unter der Tür durchbahnen, beschränken sich noch auf ein friedlich anmutendes Mindestmaß. Mein Ich gibt sich dementsprechend der Hoffnung hin, dass dieser Jahresabschluss glimpflich verlaufen werde und kuschelt sich halbwegs zufrieden in die Lehnen seines Lieblingsplatzes. Bis ein unheilverkündetes Klirren es hochschrecken lässt – doch kam es verwunderlicher Weise nicht aus Richtung des Höhleneingangs, sondern aus Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulzes Räumlichkeit. Keine zwei Sekunden später steht auch schon die hagere, bebrillte Gestalt im Raum, in der Hand zwei Gläser, eine Sektflasche und ein Orangensaft-Trinkpäckchen. Ein Ordner fehlt. „Was machst du denn hier?“, fragt mein Ich argwöhnisch. „Es ist Sylvester!“, antwortete Schmitz-Schulze nur kurz und geht geradewegs auf die Tür vom ES zu. Mein Ich zieht die Beine in seinen Sessel ein, während es mit Sicherheitsabstand beobachtet, wie Frau Schmitz-Schulze die Hand hebt, um zu klopfen. „Ist das eine gute Idee?“, fragt mein Ich leise mit einem besorgten Blick zur Höhlentür, „Ich mein‘, es spielt doch gerade so schön. Wollen wir es wirklich unterbrechen?“. „Es ist Sylvester“, wiederholt die Angesprochene nur kurz und fügt dann hinzu: „Wenn Sylvester ist, dann stößt man mit den Arbeitskollegen an!“. Bevor das Ich noch irgendwas erwidern kann, saust auch schon Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulzes Faust auf die Tür zur Höhle nieder wie sonst nur der „Abgelehnt“-Stempel auf den regelmäßigen Umzugsanträgen meines kleinen Ichs.


Einen Wimpernschlag später ist es auch schon geschehen, mit wirr vom Kopf abstehenden Haaren und kleinen Rußflecken im Gesicht blickt das ES misstrauisch an Frau Schmitz-Schulze hoch. „Was willst du?“, raunzt es. „Es ist Sylvester!“, erklärt die Frau, die sonst Ordner statt Sektflaschen mit sich rumträgt, und tritt in die Mitte des Raumes. Keine zwei Sekunden später ploppt auch schon der Korken des Champagner ähnlichen Getränkes und sie beginnt einzuschenken. Mit zittrigen Fingern und voller Irritation nimmt mein Ich eines der Gläser in die Hand, die Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulze ihm reicht. „Wo ist mein Glas?“, argwöhnt plötzlich das ES, nachdem es an seinen kleinen, dicken Stummelfingern abgezählt hat, dass ein Glas fehlt und außerdem Frau Schmitz-Schulze keine Anstalten gemacht hat, ihres aus der Hand zu geben. „Wenn man noch nicht erwachsen ist so wie du, dann bekommt man noch keinen Alkohol! Hier ist dein Saft!“, kommt prompt die Antwort in dem wohlbekannten belehrenden Tonfall, der anscheinend selbst bei einem Gläschen Sekt nicht abgelegt wird. „Bitte, was?“, zischt das ES, „Ich bin genauso alt wie du!“. „Theoretisch ja, aber schau‘ dich doch mal an. Wenn du wirklich erwachsen wärst, dann würdest du dich an Regeln halten und deine Steuer machen. Und beides tust du nicht!“, erklärt die Frau mit dem doppelten Doppelnamen schlicht und ungerührt, während sie dem ES das Trinkpäckchen entgegenhält. Mein Ich fängt sicherheitshalber schonmal an, sich tiefer im Sessel zu verkriechen und sein Glas Sekt hinter dem Sitzmöbel zu verstecken. „Ich wusste es. Ich wusste es. Das kann nicht gut gehen“, flüstert es derweil vor sich hin, während das ES eine ungesunde, rote Farbe annimmt und die kleinen Hände zu Fäustchen ballt. „Du hast mir gar nichts zu sagen, niemand hat mir was zu sagen“, brüllt es plötzlich los, „Und weißt du, warum mir niemand, was zu sagen hat? Weil ich erwachsen bin!“. „Du weißt aber schon, dass man als Erwachsener nicht direkt an die Schädeldecke geht, wenn einem etwas nicht passt! Jetzt trink‘ deinen Saft“, erwidert Sybille Cordula Schmitz-Schulze immer noch ungerührt, sofern man das leichte Zucken um ihr linkes Auge ignoriert. „Ich zeig‘ dir mal wie erwachsen ich bin“, tönt das ES unheilvoll, bevor es sich mit seinen kleinen Beinchen unglaublich kraftvoll vom Boden abstößt und auf die hagere Gestalt vor sich zuspringt. Das Trinkpäckchen fliegt sodann durch den Raum. Mein Ich hält sich nur noch schicksalergeben die Augen zu, während ein spitzer Schrei für einen kurzen Moment die dicke Luft in der WG zerreißt und einen Augenblick später ein triumphierendes „Ha-Ha“ erklingt. Zwischen seinen Fingern hindurch spähend erblickt das Ich die Szenerie: Frau Sybille Cordula Schmitz-Schulze sitzt auf ihren vier Buchstaben am Boden, die Brille etwas schief im Gesicht, aus dem strengen Duft haben sich ein paar Strähnen gelöst. Das ES hingegen steht fest auf seinen kleinen Beinchen, den Nacken zurückgelehnt und die Sektflasche triumphierend in der Hand: Der Sieger eines harten Kampfes mit seiner Beute. Dann führt es die Sektflasche zu seinem breiten, gierigen Mund und macht sie in drei Zügen leer. „Respekt“, murmelt mein kleines Ich mit subtiler Anerkennung in der Stimme, bevor ein ohrenbetäubender Rülpser es noch tiefer in seinen Sessel drückt. „Widerlich, einfach nur widerlich!“, ertönt es plötzlich von Frau Schmitz-Schulze, die aus ihrer Schockstarre scheinbar erwacht ist und sich die Brille richtet. Bevor sie noch ein weiteres Wort verlieren kann, unterbricht sie ein erneuter Rülpser, der die Schädeldecke erzittern lässt. „Ich gehe jetzt“, beschließt Frau Schmitz-Schulze daraufhin mit Nachdruck: „Wenn man mir solch ein Benehmen entgegenbringt, dann habe ich keinen Grund zu bleiben.“ Mit diesen Worten steht sie auf, streicht sich den Bleistiftrock glatt und verlässt das Zimmer. Tut dies aber nicht ohne, sich im Türrahmen noch einmal umzudrehen und meinem Ich und dem vollkommen betrunkenen ES, was anfängt „Olé, Olé, Olé, Olé – ich bin ein Champignon, olé“ zu singen, Konsequenzen anzudrohen. „Heißt das, mein Umzugsantrag ist abgelehnt?“, ruft mein Ich ihr verzweifelt hinterher, worauf es als Antwort nur das unbarmherzige Niedersausen eines Stempels auf Papier hört. Es zuckt leidend zusammen, als auch schon ein ähnlicher Ton als Echo ein paar Meter neben ihm es erneut zusammenschrecken lässt. Das Gesinge ist augenblicklich verstummt, dafür wird es von einem lauten Schnarchen abgelöst. Das ES liegt derweil alle Viere von sich gestreckt auf dem Boden und schläft selig seinen Rausch aus. „Prost Neujahr“, sagt daraufhin mein kleines Ich und leert sein Glas Sekt, bevor es sich wieder in seinen Sessel verkriecht.

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