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AutorenbildJacqueline

Stagnation, Erinnerungen und Fahrtwind

… und manchmal ist es so, dass es wirkt, als würde das Leben für eine kurze Zeit einfach stehen bleiben: Der stetige Verlauf unserer persönlichen Entwicklung stoppt, so fühlt es sich jedenfalls an. Selbst die winzigsten Mini-Schritte, die man erst nach Wochen bemerkt, weil man quasi plötzlich nicht mehr an der Weggabelung steht, an der man zuvor noch gerätselt hat, scheinen nicht existent. Vielmehr ist es, als ob man nach den beiden Schritten, die man doch vor Kurzem erst gemacht hat, wieder mindestens einen zurücktritt.


Es ist ein unangenehmes Gefühl, eine Form von diffusem Schmerz, der einhergeht mit einer emotionalen Angreifbarkeit, die man lange nicht mehr gespürt hat. Und während man dann dort mitten auf dem Weg seines Lebens steht, holt einen auch oftmals die ein oder andere Sache aus der Vergangenheit ein. Jetzt in diesem Moment, in dem man sich eh gerade so schutzlos fühlt und sich nicht von der Stelle bewegen kann, möchte sie prozessiert werden. Und das, obwohl man doch gerade noch damit kämpft, dass man vermeintlich wieder Rück- statt Fortschritt gemacht hat.


All dies kann einen entmutigen, dazu führen, dass man nach dem Sinn dieser Reise fragt, die jeder Mensch in seinem Leben mit dem ersten Atemzug antritt – wer weiß, vielleicht auch schon viel früher.


Man steht an diesen Punkten in seinem Leben in einer Art seelischem Stau – und dort auch noch ganz weit hinten, wo man noch niemals die Ursache dessen erkennen kann, was einen da so gnadenlos ausbremst. Die ersten Augenblicke hofft man noch, dass sich der Stau bald auflösen mag oder wenigstens in ein Stop-and-Go übergeht. Aber es tut sich nichts. Der eigene Motor fängt nur an, zu überhitzen und der Horizont verschwimmt hinter seinen Dämpfen. Und das aller Schlimmste: Von hinten drängeln und hupen Autos voller Erinnerungen – aber nicht die von der netten Sorte, sondern die, die eigentlich dort hinten und ganz still und leise bleiben sollen, wo sie bisher waren.


Manche von diesen Erinnerungen verlassen dann sogar ihre Wägen, denn sie wollen dringend mit einem reden. Klopfen an die Scheibe, wollen angehört werden, immerhin seien sie ja auch noch da, auch wenn sie sonst ganz am Ende in der kognitiven Autoschlange leben, die sich da in der Seele gebildet hat. Zwar stehen ihre Autos kilometerweit hinter dem eigenen, aber das hindert sie nicht daran, nein bestärkt sie sogar vielmehr darin, auszusteigen, lange Wege aus der Vergangenheit zurückzulegen und eine eindringliche (An-)Klage vorzubringen – manch eine davon setzt sich sogar auf den Beifahrersitz und das Radio zur Übertönung ihrer Worte funktioniert nicht.


Aber wie es auch im Stau auf der Autobahn ist, hilft auch hier nur, abzuwarten und sich vom nörgelnden Beifahrer nicht zu sehr in Rage versetzen zu lassen. Irgendwann löst sich nämlich auch der seelische Stau auf, irgendwann geht es weiter. Man selbst kann wieder aufs Gas drücken, die nächste Ausfahrt finden oder die Blockade lösen und weiterreisen.


Oder es passiert etwas, das in der Realität unmöglich ist, aber im rein psychischen Raum funktioniert: Man bleibt gefühlt an derselben Stelle innerhalb des Staus stehen, aber das Außen bewegt sich bzw. das Leben geht weiter. Und plötzlich ist man an der Ausfahrt, die einen endlich wieder auf Kurs bringt oder man erreicht die Blockade und kann sie aus dem Weg räumen.

Auf jeden Fall und dessen kann man sich sicher sein, wird man nicht ewiglich in diesem seelischen Stau versacken. Irgendwann nimmt man endlich wieder Fahrt auf, das Tempo fühlt sich in diesen Augenblicken unglaublich und ungewohnt hoch an. Man schießt förmlich davon und es entsteht ein Gefühl der Freiheit, des Wieder-Lebendig-Seins, des mit 180km/h über eine freie Autobahnstrecke Bretterns, dem Sonnenaufgang entgegen Fahrens. Und der Fahrtwind des Lebens fährt durchs Haar und erfrischt die Seele.


Es sind eben solche Momente, in denen man dann endlich weiß, wofür man die letzten Tage, Wochen, Monate oder vielleicht auch Jahre geduldig war. In denen man erkennt, wofür es wichtig war, sich das ungeliebte Beifahrergequatsche angehört und dann ganz bewusst im Stau zurückgelassen zu haben. Auf einem gelebten Lebensabschnitt, eben dort, wo sie hingehören.

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