„Musst du wirklich schon wieder gehen?“, ihre Mutter schaute sie flehentlich an, „Du bist doch gerade erst wieder hier.“ „Es waren acht Monate, Mutter!“, erwiderte sie sanft und strich sich ihr goldenes Haar hinters Ohr, welches einem wogenden Kornfeld ähnelte, wenn sie es offenließ. Bald jedoch, schon in ein paar Tagen, würde es sich wieder dunkel färben, so dunkel wie der Styx, der die Welten der Lebenden und Toten miteinander verband.
Ihre Mutter blickte sie weiterhin voll Bedauern an und in ihren Augen lag auch nach all diesen Jahren, nein Jahrzehnten, immer noch ein gewisses Unverständnis. Fast konnte ihre Tochter die anklagenden Worte in dem Blick ihrer Mutter hören: „Es waren doch nur vier Kerne, vier, winzige Granatapfelkerne!“. Wie oft hatte sie dieses Gespräch auch tatsächlich mit ihr geführt, wie oft hatte sie ihr zu erklären versucht, dass es nicht nur die Frucht war, die sie an diesen anderen Ort band – sie konnte all diese Male nicht einmal mehr zählen. Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, dass ihre Mutter es nie wirklich verstehen würde: Sie liebte diesen Mann, sie liebte ihre zweite Heimat und sie wurde dort gebraucht, immerhin war sie die Königin.
„Mutter, ich komme wieder!“, versuchte die Tochter, ihr Gegenüber zu beschwichtigen, „das weißt du, ich komme immer wieder.“ Dies waren keine leeren Versprechungen, dies war die Wahrheit und darüber hinaus ihre Pflicht. Wenn sie nicht wiederkam, würde ihre Mutter in ihrem Gram und ihrer Verzweiflung Unheil über die ganze Welt bringen. Nichts würde mehr wachsen, kein neues Leben würde mehr entstehen, alles würde sterben – wie damals, als sie geraubt worden war, eines schönen Tages beim Blumen pflücken; als sich die Erde unter ihr aufgetan hatte und sie hinabfiel, in seine Arme und ihn zum ersten Mal erblickte. Zunächst hatte sie Angst gehabt – vor ihm, vor der Dunkelheit, vor all den Toten, die ihr die bleichen Finger entgegenstreckten. Zu dieser Zeit hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als in den Schoß ihrer Mutter zurückzukehren und sie war ihr immer noch dankbar, dass sie ihren Großvater mit ihrem Verhalten dazu bewogen hatte, ihre Tochter wieder an die Oberfläche zurückzubringen.
Doch Zeit heilt Wunden, Zeit bringt Veränderung und in ihrem Fall brachte Zeit die Liebe. Der Mann, der sie entführt hatte, entpuppte sich als liebenswert, aufmerksam und klug. Er baute ihr in der Unterwelt einen wunderschönen Garten, er respektierte sie als seine Gattin und erhob sie nicht nur nominell zu seiner Königin. Daraufhin verlor sie die Furcht, die Furcht, die sie zunächst noch gelähmt und die ganze Unterwelt so grausam hatte erscheinen lassen. Sie wurde gewahr, dass die verstorbenen Seelen ihrer Hilfe benötigten, dass sie orientierungslos dahinwanderten, wenn sie ihnen nicht den rechten Weg zeigte. Und so wurde aus dem schüchternen, naiven Mädchen, welches unter der steten Aufsicht einer überfürsorglichen Mutter herangewachsen war, eine Königin, welche selbstbewusst und führungsstark über ein ganzes Land herrschte – geliebt von ihren Untertanen, begehrt von ihrem König, welcher ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas.
„Pass auf dich auf, Kind“, ihre Mutter trat auf sie zu und ergriff ihre Hände, „Und vergiss nicht, wer du bist: Meine Tochter, meine Sonne und der Welt Frühling.“ Sie erwiderte den Händedruck mit einem liebevollen Lächeln: „Aber vergiss du auch nicht Mutter, wer ich ebenfalls bin: Persephone, Gattin des Hades‘ und Königin der Unterwelt.“
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