#witchywomen: Zia Fanny oder Die einzig wahre Weihnachtshexe
- Jacqueline
- 6. Dez. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Dez. 2024
Zia Fanny wühlte schon seit Stunden in ihren zahlreichen Truhen, Schränken und Regalen, als sie endlich triumphierend ein altes, zerfleddertes Buch in die Höhe hielt. „Da haben wir’s!“, rief sie aus, während Cornetto, ihr schwarzer, zerzauster Kater, welcher fast so alt wie seine Besitzerin war, in der Ecke ein Augenlid hob. Zia Fanny hatte mit ihrem überschwänglichen Ausruf eines seiner zwanzig täglichen Schläfchen gestört. Mit zittrigen, runzeligen Fingern strich die alte Hexe nun die Titelseite eines Buches glatt und Erinnerungen an ihre Kindheit flackerten in ihren, bereits leicht trüb gewordenen Augen auf. „Das perfekte Geschenk“, murmelte sie stolz währenddessen. Bei dem Buch handelte es sich um eine der ersten Ausgaben des berühmten Einstiegswerkes über Hexerei und Zauberei mit dem einprägsamen Namen Mein erstes Zauberbuch. Kinderleichte Dämonenbeschwörungen, infantile Flüche und erste Schritte der Giftmischerei für Personen ab drei Jahren.

Cornetto streckte sich und zeigte bei seinem ausgiebigen Gähnen seine verbliebenen drei, aber dafür noch sehr spitzen Zähne. Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass Katzen von Hexen die menschliche Sprache verstehen und darauf wie stumme Personen mit Mimik und Gestik reagieren würden, dennoch sprach Zia Fanny nun – diese Tatsache ignorierend – mit ernster Stimme zu ihrem Kater: „Jetzt steht meiner Reise nichts mehr im Wege. Der Teppich ist fertig und alle Vorbereitungen sind getroffen. Ich mache mich also nun auf den Weg. Du kommst ein paar Tage allein zu recht, Cornetto, nicht wahr?“. Sie kraulte Cornetto daraufhin ausgiebig unter dem Kinn, während der Kater – aus ihrer Sicht – zustimmend schnurrte.
Schon lange hatte sich Zia Fanny nicht mehr auf Reisen begeben, die meiste Zeit verbrachte sie in ihrer Hütte, saß an ihrem Webstuhl oder stellte Salben für lahmende Schafe her. Sie hatte ihre wirtschaftliche Nische als Hexe auf dem Land gefunden. Deshalb hatte es sie auch nicht gewundert, als es vor zwei Wochen an ihrer Tür geklopft hatte und zwei Hirten auf ihrer Schwelle standen. Der eine war klein und stotterte, der andere schielte ein wenig. Zwei sympathische Männer, erinnerte sich Zia Fanny. Sie bat sie auf eine Tasse Tee herein, aber was sie dann von ihnen hörte, versetzte auch eine weise, alte Dorfhexe in tiefe Verwunderung: In Betelheim, oder so, sei ein Junge geboren worden. Erst einmal nichts Ungewöhnliches. Aber an diesem Jungen schien, etwas Besonderes zu sein, bzw. nicht an ihm direkt, sondern an den Umständen seiner Niederkunft. Seine Mutter, eine äußerst fromme Frau – was Zia Fanny insgeheim in Frage stellte –, sei Jungfrau gewesen, als sie ihn empfangen habe. Was aber noch verwunderlicher war: Ihr angetrauter Ehemann, Zia Fanny erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen, welcher also gar nichts mit all dem zu tun hatte, sei aber trotzdem bei ihr geblieben und finanzierte jetzt den kleinen Bastard. Die Hirten hatten auch den Namen des Kindes genannt, Zia Fanny runzelte die Stirn: „Wie war er noch gleich? Irgendwas mit J…“. Am Ende war sie halbwegs davon überzeugt, dass das Kind nicht anders als ‚Jens‘ geheißen haben musste. Ein seltsamer Name für ein seltsames Kind geboren unter seltsamen Umständen an einem seltsamen Ort namens Betelheim. Beim Verlassen ihrer Hütte gab Zia Fanny den Hirten zwei Tiegel ihrer Schafsalbe mit, dies war zwar nicht der Grund ihres Kommens gewesen, aber trotzdem … „Was für sympathische Männer“, dachte Zia Fanny erneut.
Für die alte Dorfhexe stand bereits beim Lauschen der Geschichte außer Frage, dass sie diesem Sprössling einen Besuch abstatten musste. Die Hirten hatten darauf verwiesen, dass sie den Stall, in dem das Kind zwischen goldenem Stroh und mächtigen Tieren residierte, nicht verfehlen könne. Ein großer Stern stehe über all dem und leuchte allen Pilgerinnen und Pilgern den Weg. Und tatsächlich, am Nachthimmel der vergangenen Tage strahlte ein Himmelskörper in einem grelleren Licht als alle anderen, sodass Zia Fanny beschloss, dass es keinen Grund zur Eile gab.
Außerdem war sie eine vielbeschäftigte Frau, hatte gerade erst begonnen einen neuen Teppich aus bester Schafwolle zu weben, als die beiden Hirten sie besucht hatten. Deshalb setzte sie sich erstmal wieder an ihren Webstuhl und ließ das Schiffchen geduldig über das wollene Meer segeln. Aber heute, heute war es so weit, mit dem perfekten Geschenk, ihrer großen Tasche geschultert und ihrem Besen in der einen und einer Teekanne für den Durst zwischendurch in der anderen Hand war sie bereit zum Aufbruch. „Arrivederci, Cornetto“, verabschiedete sie sich von dem Kater, der bereits wieder eingeschlafen war und stakste nach draußen.
Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass das Licht des Sternes genau in dieser Nacht verglühen sollte und den endgültigen, Jahrhunderte zurückliegenden Tod seines Erzeugers verkünden würde. Zudem hatten die Hirten entweder den Ortsnamen vernuschelt oder Zia Fanny memorierte ihn falsch, sodass sie sich auch auf ihrem Weg nicht erfolgreich nach Betelheim, oder wie auch immer durchfragen konnte. Dies hatte zur Folge, dass Zia Fanny nie Jens persönlich kennenlernen sollte, aber trotzdem gab sie nicht auf – immerhin war sie eine Hexe und Hexen waren bereits damals für ihren zuweilen zermürbenden Stolz bekannt. Jedes Jahr Ende der ersten Januarwoche zog sie deshalb von diesem Zeitpunkt an erneut los und verteilte Geschenke an alle Kinder in ihrer Umgebung – natürlich unter der Prämisse, dass auch eine Hexe ohne Orientierungssinn und mit leichter Demenz irgendwann ein Kind namens Jens beschenken würde. Um jedoch möglichst inkognito zu bleiben, nannte sie sich von nun an Befana und ist in ganz Italien bis heute noch als die einzig wahre Weihnachtshexe bekannt.
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