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AutorenbildJacqueline

#poe-me: Dorthin

Du steigst ein. Du weißt, wo die Reise hingeht. Du kennst das Ende, weil hier deine Reise vor ein paar Jahren angefangen hat. Während der Zug sich in Bewegung setzt, gehst du entgegen der Fahrtrichtung den Gang entlang auf der Suche nach einem freien Platz. Einem Platz für dich zwischen Hier und Dort, zwischen Vergangenheit und Gegenwart – beides zieht an dir vorbei wie die Landschaft vor dem Fenster.

Du hast deinen Platz gefunden – in der Mitte des Wagons, irgendwo dazwischen. Der Sitz ist unbequem, deine Tasche, die du vor dir auf den Boden gestellt hast, drückt gegen deine Schienenbeine, aber es könnte noch jemand einsteigen, der neben dir Platz nimmt. Mit der Gegenwart im Gepäck fährst du in die Vergangenheit. Dorthin, wo du aufgewachsen bist. Dorthin, wo du einen großen Teil deines Lebens verbracht hast. Dorthin, wo du zu dem Menschen wurdest, der eines Tages diesen Ort verließ und ihn von Heimat zu einem „dorthin“ machte.

Du lehnst den Kopf gegen die kalte Scheibe, du hast bereits zwei Bahnhöfe hinter dir gelassen, vor dir liegen aber noch einige. Du versuchst sie zu zählen, doch du bist dir unsicher. Sind es nur noch zehn oder doch schon zwölf? Es ist lange her, dass du das letzte Mal dorthin gefahren bist, stellst du fest, es ist zu lang her. Und doch bereust du keinen Moment, in dem du fern bliebst, dein neues Leben lebtest, fernab von den alten Kindertagen.

Von den vergangenen Tagen, als du mit dem Fahrrad durch den Ort gefahren bist – mitten auf der Straße, weil eh kaum Autos unterwegs waren. Von den vergangenen Tagen, als du noch in irgendeinem Garten in einem Planschbecken geplanscht hast, das du damals „Pool“ nanntest und bei dem du dir heutzutage nicht mehr sicher bist, ob es den Namen verdiente. Von den vergangenen Tagen, an denen irgendwann der Partykeller bei irgendwelchen Eltern die Straße oder den Garten der Nachbarn ersetzt hat. Nun hast du dich lieber hier getroffen, weil du viel zu alt warst, um mit den Kleinen auf dem Asphalt mit Kreide zu malen. Es war kein Jahr her, da hast du es auch noch getan.

Doch manchmal rennt die Zeit eben. Freundschaften, die Jahre hielten, während dir die Zeit noch wie ein Wimpernschlag vorgekommen ist, sind genauso lang schon längst wieder aufgelöst – so lang, dass es nun gefühlt „ewig“ her ist. Du erinnerst dich kaum noch an all die Abende, die du mit deinen Freunden damals verbracht hast, nur noch an das Gefühl. Und selbst das, nimmst du bloß noch durch einen Schleier wahr, wie durch eine Glasscheibe – so wie diejenige, durch die du gerade nach draußen starrst.

Wieder sind einige Haltstellen an dir vorbeigezogen wie die Erinnerungen aus deinem Jugendalter. Einige Menschen sind ein- und wieder ausgestiegen. Kurz hat sogar jemand neben dir gesessen, doch diese Person verließ an der letzten Haltestelle ihren Platz neben dir. Du hebst den Blick und versuchst auszumachen, wo du gerade bist – auf deiner Strecke zwischen hier und dorthin. Doch du musst feststellen, alles sieht gleich aus. Jede Grünfläche ist eine Grünfläche, jedes Feld ist ein Feld und jede Kuh eine Kuh. Du musst warten, bis die nächste Haltestelle angefahren wird, um dich zu orientieren. Es kann nun nicht mehr weit sein, denkst du dir und im nächsten Moment: Das ging aber schnell.

Damals, als „Dorthin“ noch Heimat war, war dir jeder Weg in eine andere Richtung unglaublich weit vorgekommen. Du erinnerst dich daran, wie du „Dorthin“ das erste Mal verlassen hast, um ins „Hier“ zu fahren. „Dorthin“ schien dir die ersten Tage in der „fernen Fremde“ so schmerzlich weit weg, nun erscheint es dir nah und doch hast du das Gefühl, dass selbst, wenn du gleich aus dem Zug steigst, eine Distanz bleibt, die unüberbrückbar ist. Du kommst nur den halben Weg, den materiellen Weg, aber du schaffst es nicht vollkommen zurück. Und das ist in Ordnung.

Eine Haltestelle, der Zug kommt zum Stehen, du schaust aus dem Fenster. Bald da, stellst du fest. Das Abteil hat sich fast vollkommen geleert, du sitzt allein auf deinem Platz, du bist allein auf deiner Reise. Noch ein Haltestelle, sagst du dir und suchst bereits all deine Sachen zusammen. Tastest nach dem Handy, dem Portmonee, deinen Kopfhörern. Du solltest hier nichts vergessen auf dem Weg dorthin, wer weiß, ob du es wieder bekommst.

Die letzte Haltestelle ist passiert. Dein letzter Mitinsasse ist ausgestiegen, nun bist du wirklich allein im Wagon. Du lehnst dich noch einmal zurück, schließt die Augen und bereitest dich vor, durch die Tür zu schreiten zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Heute und Gestern, zwischen dem Hier und Jetzt und vergilbten Erinnerungen.

Der Zug hält, du stehst auf, schulterst deinen Rucksack, gehst zur Tür. Du steigst aus mit der Gewissheit, in zwei Tagen geht dein Zug zurück.

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