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AutorenbildJacqueline

#poe-me: Eine Ode an den Herbsteinbruch

Sie bilden das dynamische Duett, das in seinem symphonischen Synergismus eine Zeit einläutet, eine Zeit, die stetig wiederkehrend, dramatisch drängend und unaufhaltsam anbricht. Sie sind die verfluchten Vorboten und gleichzeitig illusorischen Indizien. Sie sind der Ruf, der von den Dächern schallt, sie sind die Zeichen des unvermittelt Unvermeidbaren und sprechen in leiser Weise laut aus: „Der Herbst ist da!“. Denn Herbst ist nur, wenn der Sommer geht und das Wetter kommt, das einen dazu bringt, sich in seine Wohnung zu verkriechen, das Licht anzuschalten und die drastische Dunkelheit auszusperren. Doch mit dem Wetterwechsel ist es nicht getan, nein, es braucht mehr, um es nicht nur zu glauben, sondern es zu wissen, zu fühlen, mit jedem der menschlichen Sinne wahrzunehmen. Wir brauchen dieses schwere Gefühl auf der Brust, das uns den Atem nimmt, das unsere Glieder bleiern werden lässt und unsere Sinne mit zartem Schmerz vernebelt. Wir brauchen die erste Erkältung des Jahres. Denn nur zusammen mit den stürmischer werdenden Tagen und im sanften Würgegriff der virulenten Viren wissen wir: Der Herbst ist da!

Während die dritte Jahreszeit mit ihrer naturgegebenen Finesse die Blätter in den fröhlichsten Farben erscheinen lässt, so färbt der menschliche Auswurf blütenweiße Taschentücher in zarten Nuancen von giftigem Gelb bis garstigem Grün. Fast schon expressionistisch mutet der ein oder andere Taschentuchinhalt an, fast surrealistisch wie Salvador Dalís „Beständigkeit der Erinnerung“ zerfließen hier nicht Uhren auf einer Leinwand, sondern die Ergebnisse unserer Erkältung auf Papier. Auch das Wetter und das edle Befinden des Menschen im Herbst synchronisieren sich; wie der Regentropfen auf den grauen Asphalt, so tropft die Nase in die Leere oder auf eine Schreibtischplatte. Die Willkürlichkeit des Wetters wütet nicht nur draußen, sondern parallelisiert sich mit den tobenden Temperaturen in unserem Inneren. Mal scheint die unerbittliche Sonne und Schweißperlen bilden sich auf unserer Stirn, obwohl wir uns innerlich fühlen wie in einem kantigen Kühlschrank. Und doch schwitzen wir wie ein Gletscher, der in Flammen steht, wenn sich kleine Brandherde um Augen, Nase und Mund bilden. Wenn uns innere Hitze in wogenden Wellen durchströmt, bekommt das Wort „Frostbrand“ eine ganze neue Bedeutung.

Der Tag vor der Erkältung, da war noch alles gut, da war noch Sommer ...

Und ähnlich wie das herbstliche Wetter, das einerseits den letzten Sommertagen noch Tribut zollt und andererseits sich an der Imitation des wortlosen Winters versucht, so wechselt auch unser Körper von dem Empfinden heilloser Hitze zu klappernder Kälte. Es peitscht der Regen, es fallen die Temperaturen, es graut nicht nur dem Himmel, sondern auch dem tragischen Träger der Erkältungsviren, bei dem nun auf Hitzewellen Kälteeinbruch folgt: Wie unter einem herbstlichen Blätterhaufen manch Getier sich vor der Witterung vergräbt, vergräbt der Mensch sich unter daunigen Decken und langen Laken, in putzigen Pullovern mit maskenhaften Motiven und in dicken, wolligen Wollsocken und doch friert man in der komatösen Kälte, die nur man selbst verspürt. Und durch alle traumatisierenden Temperaturschwankungen hindurch bleibt eine Konstante, diese Konstante betrifft einen kläglichen Körperteil, den einzigen Körperteil, den alles kaltlässt, der nicht zwischen Hexenverbrennung und Waterboarding changiert, sondern erstarrt ist in seinem Zustand der knarrenden, klappernden Kälte: Es sind die Füße, die förmlich wie die Eiskönigin höchst selbst alles in ihrem Umkreis einzufrieren drohen. Ist das schon die Hand des Todes, die nach uns greift? Manch mannhafter Mann meint sich in solch einem grundlosen Gedanken zu verlieren, wenn er den höhnischen Hauch der Erkältung im Nacken spürt. Doch lasst euch gesagt sein, das alles muss sein, denn wüssten wir sonst, was wir jetzt wissen? Würden wir spüren, was wir jetzt spüren? Würde ich euch mitteilen können, was ich euch jetzt mitteile? Der Herbst ist da!

Nein, es braucht das zaudernde Zusammenspiel von Wetterumschwung und Erkältungspein, damit wir wissen, was wir wissen, spüren, was wir spüren, mitteilen können, was wir mitteilen müssen. Der Herbst ist da! Ansonsten würden wir dasitzen, in unseren wohlig warmen Wohnungen, mit tröstenden Tees und in samtig weichen Sweatern und würden es nicht bemerken, was es zu bemerken gilt. Wir würden dem Herbst unsere warmeingepackte kalte Schulter zeigen und unberührt von allem, den Traum des Sommers weiterleben, in ironischer Ignoranz der Realität gegenüber, die uns nur der schonungslose Schmerz des Kopfes ins Gedächtnis ruft und deren Botschaft nur mit heiserem Husten unser Ohr erreicht: Es ist Herbst! Der Herbst ist da!

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