Es ist keine richtige Dunkelheit, die die Stadt einhüllt. Es scheint eher so, als hätte sich schwarze Seide über die Lichter gelegt, als läge ein dünnes, dunkles Tuch über den dichtgedrängten Häusern unter einem abgedunkelten Himmel. Ein paar Sterne blinzeln hindurch, das Firmament weder schwarz noch blau, mehr dunkler Rauch. Es ist halb zwölf. Eine halbe Stunde vor Mitternacht, vor dir liegt der Heimweg. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl. Beschirmt und beschützt von deiner Stadt: Die Dunkelheit hüllt dich in ihren Mantel, sie umfängt dich mit liebevoller Strenge. Es ist kühl, nicht kalt. Es ist Nacht und trotzdem nicht hoffnungslos. Gelbes Licht strahlt dir den Weg auf den verlassenen Straßen, tropft von den Laternen und die Leuchtlachen breiten sich aus auf dem Asphalt. Du watest durch sie durch, dein Schatten stets an deiner Seite; mal neben dir, mal hinter dir und dann auch dir voran. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl. Deine Stadt ist deine Heimat, du kennst ihre Wege, ihren Horizont, auch wenn ein Tag sich gerade verabschiedet und ein neuer beginnt. Sie ist nicht immer gleich, doch immer ein und dieselbe, sie ist weder schwarz noch weiß, doch ihr Grau kennst du gut. Du weißt, welche Turmuhr dort in der Ferne zwölfmal schlägt, sie steht dir vor Augen trotz der Entfernung, du siehst ihr Ziffernblatt und weißt, etwas Neues kommt; ein neuer Tag für deine altbekannte Stadt. Der Zeiger schreitet stetig und stumm, unaufhaltsam bewegt und doch kommt er nicht voran, er läuft im Kreis, beschreitet keine neuen Wege. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl! Denn diese Wege sind auch dir nicht neu: Nur selten gehst du in solcher Stille, im dunklen Rauch durch deine Stadt. Es ist als würdest du Dias schauen. Negativabzüge vor Augen, die Wege nun leer, die Einkaufspassage ebenso. Verlassen was sonst belebt, leise was sonst lebhaft und ausgeblichen was sonst Farbe trägt. Du gehst weiter, vorbei an den Ladenzeilen, die ohne Einkaufswillige nur wie Gerippe dastehen. Hier und dort blinkt noch ein Licht, es flackert das Notausgangsschild im H&M. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl. Die Stadt schlummert friedlich zu deinen Füßen, niemand stört deinen Weg, den Weg der Gedanken. Das Leben ist wie ausgeknipst, die meisten Menschen hinter den Betonfassaden versteckt. Nur einmal fällt Licht aus einem Spalt in den dicken Wänden auf die Straße, du hörst Worte der Verabschiedung, Lachen und dann eine Tür, die sich schließt. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl. Heimweg, alle Leute scheinen auf diesem Pfad, wenn sie jetzt noch draußen sind, und so ziehen mit dir ein paar Gestalten in vielerlei Richtungen in den nächtlichen Rauch, in die Tiefen der Stadt, ins Herz hinein. Eine Gruppe Engländer singt auf der Straße, sie trinken, ihre Bierflaschen klirren, der Atem steigt in Rauchwolken an den Häuserfassaden empor, vermischt mit dem Rauch einer glimmenden Zigarette. Hier und dort brennt auch noch ein Licht und gibt preis, was sich dort hinter verbirgt; mal ist es Leere und mal auch nicht. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl.
Du läufst weiter, vorbei an der Dönerbude deines Vertrauens, du siehst wie eine Gestalt im letzten Licht der Nacht den Boden wischt. Hin und her, weggewischt den vergangenen Tag; Platz für Neues in der Welt. Im Schaufenster daneben glitzert müde ein Tannenbaum, schafft es nicht, die Dunkelheit zu bekämpfen, brennt tapfer weiter, als wüsste er, dass der Tag auch wiederkommen wird. Schritt für Schritt, Herzschlag für Herzschlag gehst du weiter. Der Puls der Stadt ist langsamer als tags, bedächtiger und weniger gehetzt. So ganz allein zwischen leeren Taxis und ausgestorbenen Wegen, die dunklen Ampel gibt dir kein Zeichen mehr. Keine Farben, nur schwarz starrt sie dich an, während ein Güterzug sich über die Gleise schiebt: Wagon für Wagon behutsam über die Brücke, passiert den Bahnhof und verschwindet in der Nacht - fast unbemerkt, wie nie dagewesen, kaum hörbar, bedächtig und geschmeidig- ganz anders als am Tag. Du solltest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl. Oben in der Luft blinkt plötzlich etwas auf, schiebt sein tastendes Licht durch den Rauch: Ein Flugzeug zeichnet Linien in den Himmel, seine Scheinwerfer das Firmament absuchen nach dem Ziel der Menschen dort oben. Hier unten auf der Straße bist du allein: du sollest dich einsam fühlen, doch du fühlst dich wohl. Es sind nur noch wenige Schritte, du kennst nur zu gut die Steine unter deinen Füßen, jeden einzelnen hast du Hundertmale schon einmal berührt, auch jetzt fühlen sie sich kaum anders an. Es sind die gleichen Steine, am gleiche Ort, ohne Fremdheit, ganz bekannt. Als du schlussendlich die Tür aufschließt zu deiner Wohnung, das Licht anschaltest, ist es grell. Der Rauch der Nacht hat keine Chance, er zieht sich zurück nach draußen. Dorthin, wo du gerade herkamst, wohin du morgen wieder gehst, wo du immer schon gegangen bist- es ist halb eins. Eines der letzten erleuchteten Fenster in deiner Stadt ist deines. Einsamkeit ist für dich grad nur ein Wort, denn du fühlst dich wohl in der nächtlich- friedlichen Stadt, deiner Heimat!
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